Kapitel 2: Ethik  •  Abschnitte 10 bis 14

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Einige Missverständnisse

Die zentrale Erkenntnis der bisherigen Überlegungen ist die Rolle der Ethik als kollektive Vernunft. Allein daraus lassen sich einige Vorstellungen als falsch erkennen, die zuvor vielleicht noch plausibel erscheinen konnten:

  • Tradition ist nicht die eigentliche Begründung der Ethik. Tradition ist nur das Medium, das einen Teil der Ethik speichert und übermittelt.
  • Ethik ist kein Selbstzweck. Sie sagt den Menschen nicht, was sie anstreben sollen, sondern nur, was sie tun sollen, um das, was sie individuell anstreben, in der Gemeinschaft bestmöglich zu erreichen. Ethische Konzepte wie Anstand, Solidarität oder Gerechtigkeit sind in erster Linie nicht Ziele, sondern Werkzeuge. Sie müssen sich an ihrer Wirkung messen lassen.
  • Ethik kann von den Menschen nicht nach Gutdünken festgelegt werden. Ethik hat eine Qualität, d.h. es gibt für eine Gemeinschaft bessere und schlechtere Ethiken. Das Ändern der Ethik ist kein freies Gestalten, sondern der Versuch, sich dem Optimum anzunähern. (Wobei die Aussage, dass Ethik allen Menschen dient, nicht bedeutet, dass auch jede Verbesserung allen Menschen dient. Für einen ägyptischen Pharao wäre eine Umstellung der Gesellschaft auf die optimale Ethik vermutlich ganz überwiegend nachteilig gewesen. Eine vernünftige Weiterentwicklung der Ethik kann Verlierer haben.)
  • Ethik ist kein Synonym für Menschlichkeit. Sie ist in jeder interaktiven Gemeinschaft relevant, ob nun menschlich oder nicht. Tatsächlich kann man bei Tieren wie zum Beispiel staatenbildenden Insekten ethisches Verhalten finden. Richtig ist nur, dass die Ethik von Ameisen oder Transportautomaten natürlich anders aussieht als die des Menschen, und insofern hat unsere Ethik dann doch etwas mit Menschlichkeit zu tun.
  • Ethik ist nicht der von manchen vielleicht erhoffte Wegweiser, der für uns alle den Großteil der Entscheidungen des Lebens bestimmen kann. Einzelne können ihre verfolgten Vorlieben auf ein Minimum reduzieren und Entscheidungen statt dessen hauptsächlich auf Ethik gründen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass sie sich in den Dienst fremder Vorlieben stellen. Dass alle Menschen sich so verhalten, ist nicht möglich, denn mit dem Wegfall der meisten Vorlieben würde die Entscheidungsfähigkeit verloren gehen. Auch kollektive Vernunft ist eben nur Vernunft und kann allein kein Verhalten festlegen.
  • An der Unsicherheit, mit der ethische Entscheidungen oft behaftet sind, muss nicht unbedingt ein Mangel an Erkenntnis schuld sein. Es geht ja in der Ethik vor allem um fremde Vorlieben, die man oft nur vermuten kann, deshalb sind Unsicherheiten auch mit aller philosophischen Erkenntnis der Welt nicht vermeidbar.

Außerdem gibt es eine beliebte Praxis, die an dieser Stelle nicht mehr gerechtfertigt erscheint: das Entscheiden über Ethik mittels plumper Analogieschlüsse. Der bekannte Zweck der Ethik macht ein Differenzieren möglich. So ist zum Beispiel ein Kriegsspiel nicht automatisch verwerflich, weil es irgendwie einem echten Krieg ähnelt. Es ist erkennbar, warum wir Krieg zu vermeiden versuchen: Er bringt Zerstörung, Leid und Tod. Für ein Spiel gilt das nicht, die Analogie ist hier also irreführend. Vielleicht ist das Spiel aus anderen Gründen unethisch, aber das wäre dann erst einmal zu zeigen. Die gleiche Argumentation gilt natürlich für alle Arten von Fiktion bis hin zu geächteten Inhalten wie Kinderpornografie.

Natürliche Ethik als Vorliebe

Die natürliche, intuitive Ethik macht einen beträchtlichen Teil der menschlichen Gefühlswelt aus. Es gibt den Drang, sich ihr gemäß zu verhalten, und es gibt die Freude, es getan zu haben. Für den großen Teil der intuitiven Ethik, der durch die kulturelle Ethik nicht verworfen wird, ist das eine wunderbare Sache. Das Richtige ist gleichzeitig das Angenehme, genau wie es die Natur eingerichtet hat. Man kann in diesen Belangen alle nüchternen Erkenntnisse über Ethik vergessen und sich einfach an dem erfreuen, was menschliche Wärme genannt wird.

Schwierig sind diejenigen Vorgaben der natürlichen Ethik, die ihre Existenzberechtigung durch die Änderung der Lebensverhältnisse und das Heranreifen der kulturellen Ethik verloren haben. Hier ist die Verbindung dieser Vorgaben mit Gefühlen keine freundliche Vereinfachung mehr, sondern eine Verkomplizierung. Denn aus Gefühlen erwachsen Vorlieben, und Vorlieben sind nun mal das Motiv und der Maßstab allen Handelns. Obwohl also diese alten Werkzeuge des erfolgreichen Zusammenlebens als solche heute überflüssig oder sogar kontraproduktiv sind, müssen sie immer noch berücksichtigt werden, nun eben als Vorlieben. Allerdings sind es nur Vorlieben unter vielen, d.h. es ist erst zu entscheiden, in welchem Maße sie berücksichtigt werden können. Wenn sie anderen Vorlieben entgegenlaufen, müssen Kompromisse gefunden werden, und das kann schmerzhaft sein. Was zum Beispiel ist wichtiger: eine alt-ethische Herzensangelegenheit oder der Fortschritt der Lebensqualität?

Eigennutz kontra Fremdnutz

Das Thema Eigennutz birgt einiges Verwirrungspotenzial, und zwar hauptsächlich deshalb, weil der Begriff weniger klar ist, als er es intuitiv zu sein scheint. Die einfachsten Versuche einer Präzisierung scheitern an den Paradoxen der Interaktion und den Antworten der Natur. Wie festgestellt, dient jedes vernünftige Verhalten zumindest im Rahmen einer Vereinbarung den eigenen Vorlieben. Obendrein hat der Mensch noch seine natürlich-ethische Gefühlswelt, die einer beliebig verlustreichen Tat einen Gewinn hinzufügen kann. Tatsache ist, dass der Begriff Eigennutz nur solange einen Wert für die Diskussion hat, wie er verschiedene Verhaltensweisen voneinander abgrenzen kann. Wenn die Bedeutung so gewählt ist, dass jedes Verhalten als eigennützig gewertet werden muss, dann sind die Erkenntnisse über Eigennutz mit dieser Aussage erschöpft. Wir wollen deshalb zu Beginn etwas Aufwand investieren, um zu einem brauchbaren Begriff zu gelangen - einem Eigennutz im Sinne der Alltagssprache.

Beginnen wir mit folgender naheliegenden Unterscheidung auf der Ebene der Entscheidungen:

Entscheidung des Typs 1: Der Mensch dient der eigenen Vorliebe. Präzise formuliert: Unter allen Handlungsalternativen wählt er die, die seinen Vorlieben am besten dient. Das schließt nicht aus, dass gleichzeitig fremde Vorlieben bedient werden, was aber nicht ausschlaggebend ist für die Entscheidung. Ein Beispiel für eine Entscheidung, die in diese Kategorie fällt:

  • Ein Mann arbeitet als Fahrer einer Planierraupe am Bau einer Straße mit. Es steht außer Frage, dass er damit auch der Gemeinschaft dient, aber in erster Linie ist die Entscheidung zu dieser Tätigkeit für seine persönlichen Ziele die richtige, denn er verdient sich so den Lebensunterhalt.

Entscheidung des Typs 2: Der Mensch dient fremder Vorliebe. Präzise formuliert: Unter allen Handlungsalternativen wählt er nicht die, die seinen Vorlieben am besten dient, sondern eine andere, die zumindest teilweise auch durch fremde Vorlieben motiviert ist. Meistens ist so eine Entscheidung ein Kompromiss, denn er wird seine eigenen Vorlieben nicht völlig unberücksichtigt lassen; etwa die Vorliebe, weiter zu leben. Ein Beispiel für eine Entscheidung, die in diese Kategorie fällt:

  • Ein Reicher verkauft seine Villa, kauft sich stattdessen ein kleines Apartment und spendet den Rest vom Erlös für die Krebsforschung. Das Abzweigen des Teilbetrags für den Kauf des Apartments zeigt, dass er trotz allem die eigenen Interessen nicht ganz vergessen hat. Außerdem wird er vermutlich eine gewisse Befriedigung über seine gute Tat erfahren, aber das lässt seine Entscheidung nicht in die erste Kategorie fallen, denn den Verlust der Villa macht es im Hinblick auf seine Lebensqualität nicht wett. Mit den eigenen Vorlieben als einzigem Maßstab wäre die Entscheidung falsch.

Nochmals komplizierter wird die Angelegenheit dadurch, dass Menschen eine intuitive Ethik haben, die Hilfsbereitschaft einschließt. Folglich haben sie eine mehr oder weniger stark ausgebildete eigene Vorliebe, fremden Vorlieben zu dienen. Deshalb gibt es noch eine dritte Kategorie von Entscheidungen, die eigentlich eine Unterkategorie der ersten ist, in wichtigen Belangen aber eher der zweiten gleicht:

Entscheidung des Typs 1A: Die Vorliebe des Menschen, fremden Vorlieben zu dienen, ist hier ausreichend stark, um die Entscheidung zu beeinflussen. Er dient fremden Vorlieben, tut das aber nur wegen des natürlichen Drangs und der Befriedigung, die damit verbunden ist; letztendlich also doch aufgrund einer eigenen Vorliebe.

Den Typen 2 und 1A ist gemeinsam, dass der Mensch sein Verhalten zumindest in seiner unmittelbaren Wirkung auch auf fremde Vorlieben ausrichtet. Dieser Unterschied zum Typ 1 soll uns als Kriterium zur Abgrenzung von Eigennutz dienen: Die Nähe einer Entscheidung zum Typ 1 (ohne Typ 1A) soll als Grad der Eigennützigkeit gelten, die Ausprägung als Typ 2 oder 1A als Grad der Fremdnützigkeit. Die fremdnützigen Entscheidungen des Typs 1A entstehen aus der natürlichen Ethik, die des Typs 2 aus der kulturellen.

Die schlichte Vorstellung von einer zweigeteilten Welt aus eigennützigen Entscheidungen einerseits und uneigennützigen andererseits wird der Sache also nicht gerecht. Die meisten Entscheidungen bewegen sich zwischen den Extremen - der völligen Rücksichtslosigkeit und der totalen Aufopferung. Je nachdem, wie eigene und fremde Vorlieben gewichtet werden, tendiert eine Entscheidung mehr zum einen oder zum anderen Ende des Spektrums.

Die Frage ist nun, wie sich Eigennutz zur Ethik verhält. Wir hatten ja festgestellt, dass die Situation für die Mitglieder einer Gemeinschaft nicht dann am besten gerät, wenn jedes konsequent eigennützig handelt. Mehr noch: Wir haben bisher keinen Grund entdeckt, warum es überhaupt vorteilhaft sein sollte, die eigenen Vorlieben über die von anderen zu stellen. In der Gemeinschaft ist es egal, ob Klaus und Peter sich jeweils selbst dienen, oder ob Peter Klaus dient und Klaus Peter, solange nur die Dienste in den beiden Varianten gleich groß sind. Als entscheidendes Kriterium empfiehlt sich nicht, wer von einer Handlung profitiert, sondern wie groß der Gewinn ist - für wen auch immer. Die durchschnittliche Lebensqualität der Mitglieder einer Gemeinschaft sollte sich dann am besten entwickeln, wenn jeder Einzelne mit seinem Verhalten sie zu maximieren versucht - und nicht etwa die eigene Lebensqualität. Letztere ist vom Durchschnitt zwar ein Teil, aber nur einer unter vielen. Im Prinzip bedeutet ethisches Verhalten, sich von der eigenen Person und ihren Vorlieben soweit zu lösen, dass sie zwischen allen übrigen Personen und deren Vorlieben keine hervorgehobene Rolle mehr spielen.

Richtig ist aber auch, dass man nicht allen Mitmenschen gleich große Dienste erweisen kann. Der Angler kann einem anderen Angler mit Rat und Tat gut zur Seite stehen, nicht aber gleichermaßen einem Bergsteiger. Selbst wenn also die Größe des Dienstes das einzige Kriterium für ein Verhalten ist, entsteht eine natürliche und sinnvolle Bevorzugung gewisser Personen.

Insbesondere befindet sich unter allen Menschen, denen man Dienste erweisen kann, einer, dem zu dienen besonders effizient ist: man selbst.

Einer der wichtigsten Gründe für diese Asymmetrie liegt in der Informationsverteilung. Der Handelnde ist über die Situation des Betroffenen dann bestmöglich informiert, wenn er mit ihm identisch ist. Diese Konstellation gewährt ihm das umfassendste und präziseste Wissen sowohl über die aktuelle Lage als auch die gewünschte Veränderung. Gleiches gilt für die Qualität der Rückmeldung, also für das Wissen um die Erfolge und für die richtige Bewertung dieser Erfolge. Fremdnütziges Verhalten geht leicht mit der Illusion einher, Gutes zu bewirken, während die Wirkung in Wahrheit marginal ist oder sogar schädlich. Bei eigennützigem Verhalten ist das sehr viel unwahrscheinlicher.

Zudem geht es bei der Bewertung von Erfolgen nicht nur um die Frage, ob sie überhaupt vorhanden sind. Fast jeder Nutzen muss im weitesten Sinne durch Kosten erkauft werden. Eine Handlung ist nur dann richtig, wenn der Nutzen diese Kosten übersteigt - sonst würde sie das Wohlbefinden insgesamt nicht vergrößern, sondern vermindern.

Soll man zum Beispiel das Badezimmer renovieren? Antwort: Nur, wenn der Nutzen, bestehend in mehr zukünftiger Freude, größer ist als die "Kosten", bestehend im unerfreulichen Teil der Renovierungsarbeiten. Solche Überlegungen wirken sehr ökonomisch, aber sie sind die heimliche Grundlage der eigennützigen Entscheidungen des Alltags. So wird ein Badezimmer, das schon relativ hübsch ist, seltener komplett umgestaltet werden als ein gammeliges, denn der potenzielle Gewinn ist bei ihm geringer; allzu viel Arbeit würde sich nicht rentieren.

Solange Nutzen und Kosten für die gleiche Person anfallen, gibt es einen gemeinsamen Wissensträger für beide Informationen. Er ist in der Lage, sie in ihrem tatsächlichen Ausmaß gegeneinander abzuwiegen und so zu einer klugen Entscheidung zu gelangen.

Im Gegensatz dazu fallen bei fremdnützigem Verhalten Nutzen und Kosten bei verschiedenen Personen an. Zum Zwecke der Entscheidung müssen also notgedrungen Informationen ausgetauscht werden - und zwar quantifizierte Informationen, denn sie müssen ja einen Vergleich möglich machen. Sind wir optimistisch und nehmen an, dass beide Personen ethisch agieren, dass also auch die Zielperson das Gesamtbild im Auge hat und nicht nur den eigenen Vorteil, dass sie also den Nutzen nicht absichtlich dramatisiert. Selbst dann bleibt das Problem, dass es für einen solchen quantifizierten Informationsaustausch keine geeignete Sprache gibt. Wie misst man die Mühsal von 30 Stunden Heimwerken? Oder den Mehrwert eines renovierten Badezimmers? Bedingt durch die untaugliche Kommunikation beruhen fremdnützige Entscheidungen meistens auf groben Schätzungen. Allein dadurch sind viele dieser Aktivitäten unsinnig.

Nun sind aufwändige eigennützige Tätigkeiten wie das Renovieren des eigenen Badezimmers in der modernen, arbeitsteiligen Welt eher die Ausnahme. Der Großteil der Arbeit wird gegen Bezahlung für andere geleistet, und all die einzelnen, spezialisierten Tätigkeiten fügen sich zu einem globalen Prozess von gewaltiger Komplexität. Auch das eigennützige Verhalten nimmt in dieser Welt eine besondere Form an. Es zerfällt in Käufe und Verkäufe, wobei letztere für die meisten Menschen vor allem aus dem Verkauf der eigenen Arbeitskraft bestehen. Unverändert liegen bei diesen Entscheidungen aber Nutzen und Kosten - eins von beiden nunmehr meistens Geld - bei der gleichen Person. Der eigennützige Akteur muss deshalb den komplexen Gesamtvorgang nicht kennen oder gar verstehen, um entscheiden zu können. Er muss nur die Angebote, die ihm vorliegen, anhand von Nutzen und Kosten vergleichen; beides kann niemand besser einschätzen als er. Die Teilnehmer sind also in der Lage, wenn auch mit dem Horizont der jeweiligen eigenen Interessen, intelligent zu entscheiden.

Diese Intelligenz auf der individuellen Ebene formt das gesamte System. Sie zwingt die Organisationen in einen Wettbewerb, der sich um das Verhältnis von Aufwand und Nutzen dreht. Es ist dieser Wettbewerb, der die Margen niedrig und die Effizienz hoch hält.

Die arbeitsteilige Entsprechung zum einfachen Fremdnutz ist die gemeinnützige Organisation. Die Kosten werden hier von Spendern getragen, der Nutzen entsteht weit entfernt von ihnen. Zum prinzipiellen Problem der kaum möglichen Quantifizierbarkeit des Nutzens kommen so weitere: Die Kommunikationskette ist um ein Glied länger, nämlich die gemeinnützige Organisation, die zudem ein Interesse daran hat, ihre Leistungen aufzubauschen. Außerdem werden sich die wenigsten Spender der mühsamen Aufgabe zuwenden, per Dreisatz die Wirkung ihrer Spende anhand der Gesamtleistung der Organisation und ihrer gesamten Einnahmen abzuschätzen. Aus diesen Gründen weiß ein Spender in aller Regel zwar ungefähr, für welche Art von Leistung er bezahlt, aber nicht, wie viel das ist. Mit diesem Wissen ist er nicht in der Lage, eine intelligente Entscheidung darüber zu treffen, wofür er sein Geld hergibt.

Ohne diese Intelligenz verliert der arbeitsteilige Prozess seine formende Kraft. Die Konkurrenz zwischen Organisationen ist ohne Aufwand-Nutzen-Zwänge höchstens eine um das beste Marketing. Es blüht die Ineffizienz, und auch die Profite werden durch keinen Wettbewerb im Zaum gehalten - sie werden es allenfalls noch durch Gesetze, und die sind bekanntermaßen dehnbar.

Ein Mensch kann mit den vielen Informationen, die er zwangsläufig über seine eigene Situation hat, sehr vernünftige eigennützige Entscheidungen treffen. Es besteht die Gefahr, dieses Maß an Vernunft für allgemein gegeben zu halten und die Voraussetzung, umfassende und präzise Information, nicht wahrzunehmen. Man bildet sich leicht ein, ebenso vernünftig zugunsten anderer entscheiden zu können. Aber dabei ist die Informationslage viel schlechter, die Vernunft folglich geringer.

Neben der Verteilung von Information gibt es noch weitere Faktoren, die eigennützigem Verhalten zu einer besseren Wirkung verhelfen. Motivation, zum Beispiel. Sind der Handelnde und der Betroffene identisch, dann liegen die Dinge einfach anders. Das Engagement ist größer, d.h. unabhängig von der Effizienz steigt das schiere Volumen an Aktivität. Aber auch Tätigkeiten, die die Effizienz fördern, zum Beispiel regelmäßiges kritisches Überdenken, sind dann am stärksten ausgeprägt, wenn es um eigene Ziele geht. Vielleicht könnten wir davon träumen, dass es anders wäre, aber letztendlich sind die Tatsachen zu akzeptieren.

Ebenfalls nicht ganz unwichtig ist die Frage, auf welche Art sich Kompetenz verbreiten kann. Eine Person oder eine Gruppe, für die beständig fremdnützige Leistungen einer bestimmten Art erbracht werden, entwickelt nicht die Fähigkeit, sich mit diesen Leistungen selbst zu versorgen. Konsequente Hilfe ist Abhängigkeit.

Fremdnutz hat also einige Nachteile gegenüber Eigennutz, insbesondere eine oftmals geringere Effizienz. Deshalb ist Eigennutz in vielen Fällen keine ethische Verfehlung, sondern tatsächlich ein ethisches Gebot. In der Schablone unserer Theorie bedeuten diese Fälle: Der Handelnde löst sich zunächst von den eigenen Vorlieben und stellt sie auf eine Stufe mit den Vorlieben anderer, um alle gegeneinander abzuwägen und ein Verhalten auszuwählen. Und als Verhalten wählt er: das Verfolgen der eigenen Vorlieben - nicht, weil sie wichtiger sind als fremde, sondern weil ihnen effizienter zu dienen ist. Der Beitrag zur durchschnittlichen Lebensqualität ist erwartungsweise größer als mit jeder anderen Handlungsalternative. Der Aufwand des Handelnden bringt auf diesem Weg den größten Nutzen; nicht nur für ihn selbst, sondern insgesamt.

Starker Eigennutz ist also das sinnvolle Standardverhalten eines Menschen. Das ändert aber nichts am theoretischen Gebot, fremde Vorlieben genauso hoch zu bewerten wie eigene. Es verbleiben viele Situationen, in denen der Dienst an anderen trotz aller Probleme der bestmögliche Beitrag zur Gemeinschaft ist und deshalb ethisch geboten.

Auch können die Überlegungen dieses Abschnitts nur rechtfertigen, Fremden weniger zu dienen als möglich. Keinesfalls begründen sie eine über die komplette Dienstverweigerung hinausgehende Schädigung.

In gewisser Weise lässt sich die Aufforderung zum eigennützigen Verhalten auch in den evolutionär entstandenen Ethiken wiederfinden. So ist etwa die kulturelle Ethik kein erdrückendes Regelwerk, mit dem das Leben eines Menschen durch fremde Vorlieben weitgehend determiniert ist. Zwischen einigen Geboten bleibt ein großer Spielraum, eigene Interessen zu verfolgen - der typischerweise genutzt wird, und das bedeutet nichts anderes, als dass die Ethik einen großen Anteil eigennützigen Verhaltens vorsieht. Nach allem, was wir erkannt haben, wird das auch in der optimalen Ethik nicht anders sein.

Vereinigung

Das erste Kapitel hatte uns zum Treffen bewusster Entscheidungen eine klare Strategie erbracht. Ausschlaggebend war dabei am Ende der Vergleich verschiedener Varianten. Andere Methoden hatten wir für bewusste Entscheidungen nicht zugelassen. Hier im zweiten Kapitel haben wir nun festgestellt, dass es empfehlenswert ist, Regeln zu beachten. Es stellt sich die Frage, wie diese Aussagen gleichzeitig richtig sein können, und welche Art von Entscheidungsfindung beiden gerecht wird.

Die Ordnung ist aber schnell hergestellt. Es bedarf nur der Erinnerung, dass es sich bei Ethik um kollektive Vernunft handelt. Zu dieser gehört eben auch ein "kollektives" Vorwärtsdenken - nicht in dem Sinne, dass es gemeinsam betrieben wird, sondern der Art, dass sein Maßstab die Gesamtheit der Vorlieben in der Gemeinschaft ist. Das Entscheidungsverfahren des ersten Kapitels braucht keine substanzielle Korrektur, sondern eine höhere Ebene, die kollektive.

Für den Einzelnen, der eine Entscheidung zu treffen hat, lässt sich daraus eine dreiteilige Richtlinie ableiten.

Erstens: Einige ethische Regeln sind durch die Gemeinschaft klar vorgegeben. Eine Diskussion darüber, ob diese Regeln richtig sind, ist prinzipiell gestattet. Sie aufzustellen, sollte durch Vorwärtsdenken begründet sein. Der Einzelne kann sich an der Diskussion beteiligen, aber das Ergebnis ist für ihn in jedem Falle verbindlich, auch wenn es nicht seiner Meinung entspricht. Er kann nicht davon ausgehen, die Wirkung einer Regel besser zu kennen oder besser bewerten zu können als die Mehrheit der Experten.

Zweitens: Ist seine Entscheidung damit noch nicht festgelegt, dann sollte er sich eigene Gedanken über die Ethik der Situation machen. Er muss also selbst im Namen der Gemeinschaft vorwärtsdenken. Natürlich sind solche Überlegungen von recht grober Art, da sie individuell auf der Grundlage von relativ geringem Wissen angestellt werden müssen, oft sogar spontan. Trotzdem kann der Handelnde dabei zusätzliche Regeln als wichtig erkennen.

Drittens: Es gibt einen Punkt, ab dem sich die Gedanken nicht mehr darum drehen können, welche Regeln die richtigen sind, denn am Ende ist eine Entscheidung gefragt und keine Sammlung von Regeln. Ab diesem Punkt müssen die Regeln als richtig erkannt unterstellt werden. Jede indirekte Regelwirkung, insbesondere jede Aussichtswirkung, die vor diesem Punkt nicht bedacht wurde, wird in der Entscheidung unberücksichtigt bleiben. Die Regeln sind nun beim letzten Vorwärtsdenken keine Ergebnisse mehr, sondern Einschränkungen. Es dürfen nur Varianten erwogen und verglichen werden, die ihnen entsprechen. Prinzipiell ist auch dieses Vorwärtsdenken ein kollektives, allerdings mit der erheblichen Vereinfachung, dass nur noch die Vorlieben der unmittelbar Betroffenen eine Rolle spielen können. Häufig wird sich diese Phase gar nicht sehr von einem rein individuellen Vorwärtsdenken unterscheiden, denn der am stärksten Betroffene ist nun mal meistens der Handelnde selbst.

Ethisches Denken

Im Alltag ist oft klar, worin ethisches Verhalten besteht, und der Handelnde steht nur vor der Entscheidung, ob er diese Vorgabe respektiert und sich ethisch verhält - oder ob er das nicht tut. Erfahrungsgemäß verlaufen diese Fälle überwiegend erfreulich für die Gemeinschaft. Menschen haben ein Gewissen, das sie Entscheidungen bei Kenntnis einer eindeutigen Ethik in deren Sinne treffen lässt, auch wenn sie damit den eigenen Interessen auf direktem Wege nicht optimal dienen.

So klare Verhältnisse bestehen aber nicht immer. Es gibt Situationen, in denen das ethisch Richtige alles andere als offensichtlich ist. Vor der Entscheidung mittels Ethik steht hier zunächst die Aufgabe, die richtige Ethik überhaupt erst zu erkennen. Wie bei allen Überlegungen lauert dabei die Gefahr des Wunschdenkens. Hier heißt der Wunsch: Es möge doch bitte genau das ethisch richtig sein, was mir unmittelbar nützt.

Solches Wunschdenken muss nicht bewusst sein. Häufig gibt es hinsichtlich einer ethischen Frage verschiedene Standpunkte, von denen jeder für sich leidlich plausibel ist, zumindest bei flüchtiger Betrachtung. Wunschdenken ist dann schon, diesen Standpunkten eine ganz verschiedene Kritik entgegenzubringen; sich hinsichtlich der unangenehmen Theorien nur für angreifende Argumente zu interessieren und hinsichtlich der angenehmen Theorien nur für bestätigende. Die richtige Ethik hat in so einem Denken nur dann eine Chance, wenn sie dem Denkenden zufällig auch gefällt. Andernfalls endet er damit, etwas zur Ethik zu erklären, das zwar angenehm für ihn ist, aber keine Ethik. Dieses verbogene Verständnis von Ethik bildet dann seine Position in der Diskussion und die Grundlage seiner Entscheidungen.

Diese Art von Wunschdenken ist nicht nur falsch, sie ist unethisch. Es scheint aber so, als würde das Gewissen damit kaum belastet. Ein neutrales ethisches Urteil - auch gegen die eigenen Interessen - ist in der Praxis selten anzutreffen. Meistens ist es so, dass alle Seiten für ihren Vorteil kämpfen und Ethik dabei als eine Art Waffe betrachten. Ausnehmend gern wird zum Beispiel die Gerechtigkeits-Keule geschwungen. Es scheint, als könnten viele Menschen in keiner anderen Weise über ethische Konzepte nachdenken als mittels der Frage, was ihnen persönlich nützt.

Ethisches Verhalten beginnt nicht erst, nachdem die Ethik festgelegt ist. Es beginnt beim Nachdenken über Ethik. Am Anfang steht die Bereitschaft zu einer Diskussion, die dem Angenehmen und dem Unangenehmen gleichermaßen offen gegenübersteht - und gleichermaßen kritisch. Ethik bedeutet, dass Gedanken in ihrer Energie und Gründlichkeit auch dann nicht nachlassen, wenn die Richtung, in die sie sich entwickeln, unliebsam ist.

 

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