Kapitel 2: Ethik  •  Abschnitte 15 bis 18

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Absicht, Wirkung und Schuld

Es gibt verschiedene Ausprägungen von Schuld, aber allen ist gemeinsam, dass der Schuldige irgendeine Art von Strafe erleiden muss, zum Beispiel:

  • bei Verstoß gegen ein Gesetz: eine dort oder durch ein Gericht festgelegte Strafe;
  • bei legalem, aber doch schädlichem Verhalten: Ächtung durch die Gemeinschaft;
  • bei Verstoß gegen die eigene Moral: ein schlechtes Gewissen.

Schuld ist also Teil eines Konzepts, bei dem gewisses Verhalten zu Bestrafung führt. Es geht, wie wir sehen, wieder um Regeln, und wir können unser Wissen über Regeln verwenden, um Schuld besser zu verstehen.

Absicht und Wirkung einer Handlung können weit auseinanderliegen. Für Regeln wirft das eine grundlegende Frage auf: Sollten sich die Regeln auf die Absicht beziehen oder auf die Wirkung? Auf das Konzept der Schuld übertragen: Soll der als schuldig gelten, der etwas bezweckt hat, oder der, der es bewirkt hat?

Die Relevanz der Frage ist kaum zu bemerken, solange Absicht und Wirkung zusammenfallen. Ein Mörder hat den Tod seines Opfers beabsichtigt und bewirkt, er ist schuldig. So einfach ist es aber nicht immer. Um beim Beispiel des Tötens zu bleiben: Es gibt den Fall des versuchten (aber nicht gelungenen) Mordes, und andererseits gibt es den Fall der unabsichtlichen Tötung.

Einen Hinweis darauf, wie die richtige Antwort aussieht, gibt unser Strafrecht als Teil einer hochentwickelten Ethik: Dort ist nämlich beides mit Schuld und Strafe belegt, der versuchte Mord genauso wie die fahrlässige Tötung, obwohl den Fällen kein Kriterium gemeinsam ist. Einmal entsteht die Schuld rein aus der Absicht ohne Wirkung, einmal nur aus der Wirkung ohne Absicht. Wir wollen den Hinweis aber gleich wieder vergessen und die Frage ganz theoretisch untersuchen.

Regeln, die sich um Strafe drehen, sind um ihrer Aussichtswirkung wegen in Kraft; bei der Anwendungswirkung übersteigen die Nachteile in aller Regel die geringen Vorteile wie die Genugtuung für einige Betroffene. Um zu untersuchen, wann man von Schuld sprechen sollte und wann nicht, müssen wir also die Aussichtswirkung der jeweiligen Regeln betrachten. Dabei gibt es immer zwei Fragen:

  • Für wen spielt das Wissen von der Regel überhaupt eine Rolle?
  • Wie ändert sich durch dieses Wissen sein Verhalten - und ist diese Veränderung wünschenswert?

Die zweite Frage werden wir auf der abstrakten Ebene kaum klären können, wir müssen uns also mit der ersten begnügen. Damit haben wir zumindest ein Mittel, um vielleicht manche Arten von Schuld als verfehlt zu identifizieren - wenn nämlich die Antwort "Niemand" ist.

Jede Zuweisung von Schuld findet sich in einem der folgenden Fälle wieder:

  • "Schuld ist, wer die Tat mit Absicht begeht." - Der einfachste Fall zur Einstimmung. Wenn wir hier die Zweckmäßigkeit der Regel ablehnen müssen, dann wäre das höchst überraschend. Die Regel spielt aber für jeden eine Rolle, für den die Tat eine Option ist, denn diese Alternative ist dann mit dem Risiko der Strafe behaftet. Die Regel kann also sinnvoll sein.
  • "Schuld ist, wer die Tat zu begehen versucht, damit aber keinen Erfolg hat." - Für denjenigen, der fest vom Erfolg seiner Tat ausgeht, ist so eine Regel belanglos. Sobald der Ausgang aber als unsicher eingeschätzt wird, macht es einen Unterschied, was im Fall des Misserfolgs passiert. Auch eine solche Regel kann Sinn haben.
  • "Schuld ist, wer eine unerwünschte Wirkung erzielt, ohne sie angestrebt zu haben, wenn er sie als Folge oder zumindest als Risiko seines Tuns mit seinen Möglichkeiten hätte erkennen können." - Eine Regel dieser Art spielt für niemanden, der die Wirkung beabsichtigt, eine Rolle - wohl aber für alle anderen. Sie veranlasst die Menschen, die möglichen Folgen ihres Tuns umfassender zu bedenken und in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Wiederum kann ein Sinn nicht ausgeschlossen werden.
  • "Schuld ist, wer eine unerwünschte Wirkung erzielt, ohne sie angestrebt zu haben, und ohne sie als Risiko seines Tuns mit seinen Möglichkeiten erkannt haben zu können." - Hier haben wir nun den Fall, dass wir eine Klasse von Schuld ablehnen müssen. Es gibt schlichtweg keine Entscheidung, für die das Wissen von einer Regel dieser Art relevant ist. Solche Regeln hätten keine Aussichtswirkung, und die Anwendungswirkung ist schädlich.

Wenn also jemand eine Bananenschale in einen Müllkübel wirft, der Wind bläst den Kübel um, die Bananenschale fällt heraus, ein anderer rutscht darauf aus, schlägt hart mit dem Kopf auf und ist tot, dann ist der erste zwar ein Glied in einer unglücklichen Kette von Ereignissen, aber schuld ist er nicht. Nicht umsonst ist auch im Gesetz recht eingrenzend die Rede von "fahrlässiger" Tötung, nicht allgemein von "unbeabsichtigter".

Wirklich überraschend sind diese Einsichten nicht, aber solche Überlegungen sind eben nötig, wenn man weder der Intuition noch der vorherrschenden Meinung vertrauen will.

Freiheit und Schuld

Nicht jeder, der auf unerwünschte Weise handelt, macht sich damit schuldig. Intuition und Erziehung sagen uns: Mit Fehlverhalten lädt nur derjenige Schuld auf sich, der überhaupt die Freiheit hatte, es besser zu machen.

Wir wollen diese Aussage überprüfen, und zwar unter Verwendung des Verständnisses von Schuld, das wir im letzten Abschnitt gewonnen haben. Schuld ist demnach Teil eines Konzepts mit dem Zweck, eine vorteilhafte Aussichtswirkung herzustellen. Sie ist immer dann angemessen, wenn eine solche Wirkung besteht, und andernfalls immer verfehlt.

Weniger klar ist der zweite zentrale Begriff der Behauptung: Freiheit. Eine einfache Klarstellung ist hier auch nicht möglich; wir müssen uns vielmehr mit vielfältigen Interpretationen anfreunden. Der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit kann an ganz verschiedenen Kriterien festgemacht werden, und jedes gibt der Behauptung von der Unschuld des Unfreien eine andere Bedeutung. Wir haben es also nicht mit einer einzelnen Aussage zu tun, die sich pauschal als richtig oder falsch herausstellen ließe, sondern mit einer ganzen Schar von Aussagen, von denen einige richtig und andere falsch sein können.

Wir werden deshalb, wie nicht anders möglich, einzelne Interpretationen der Behauptung diskutieren, und wir werden sie daran unterscheiden, welche Umstände jeweils dazu veranlassen, von "Unfreiheit" auszugehen und den Handelnden darum von Schuld freisprechen zu wollen.

Unfreiheit Nummer 1: Fehlende Informationsverarbeitung. Ein Sturm hat nicht die Freiheit, aufzuhören. Eine Marionette hat nicht die Freiheit, ihre Fäden zu zerschneiden und allein weiterzulaufen. Beiden fehlt schon die Grundvoraussetzung für Freiheit, nämlich ein Apparat, der Informationen verarbeitet und daraus Entscheidungen entwickelt. Dass Instanzen wie Sturm und Marionette damit auch nicht schuldfähig sind, können wir mit unserer Theorie bestätigen. Sie reagieren nicht auf Regeln und tragen deshalb nichts zu deren Aussichtswirkung bei. Mit dem Ablehnen von Schuld liegt die Intuition hier also richtig. Die Aussichtswirkung einer Regel, die Strafen für alles und jedes vorsieht, unterscheidet sich nicht von der einer Regel, die sich in gleicher Weise nur auf Menschen bezieht. Die Anwendungswirkung ist dagegen schlechter, denn sie enthält mehr Aufwand aufgrund der zahlreicheren Bestrafungen.

Unfreiheit Nummer 2: Fehlende Mittel. Ein Nichtschwimmer hat nicht die Freiheit, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten. Ein Spaziergänger hat nicht die Freiheit, einen plötzlichen Erdrutsch aufzuhalten und so die Bewohner eines Hauses zu schützen. Die Menge der Handlungsoptionen, zwischen denen sie formal entscheiden können, enthält nicht das wünschenswerte Ergebnis. Auch für diese Art von Unfreiheit lässt sich die Unschuld bestätigen. Wieder bleibt die Aussichtswirkung einer möglichen Strafregel gleich, wenn sie sich auf die beschränkt, die in diesem Sinne frei sind, denen also die Mittel gegeben sind, das gewünschte Verhalten anzunehmen.

Unfreiheit Nummer 3: Nötigung. Hier geht es um den Fall, dass das wünschenswerte Verhalten für den Akteur mit einem Nachteil verbunden ist, der schwerer wiegt als die mögliche Strafe, um die sich die Frage der Schuld dreht. Ein extremes Beispiel wäre ein Soldat, der den Befehl hat, ein Kriegsverbrechen zu begehen, und dem bei Verweigerung der Tod vorm Standgericht droht. Bei dieser Art von Unfreiheit ist die Frage nach Schuld oder Unschuld komplex. Klar ist, dass eine Strafregel allein keine Aussichtswirkung hat, da das bestrafte Verhalten trotz Strafe die bessere Wahl bleibt. Denkbar ist aber, dass beim Handelnden eine gewisse ethische Überzeugung besteht, die gleichfalls allein nicht für ein entsprechendes Verhalten genügt, und dass erst das Zusammentreffen von schwacher Überzeugung und (vergleichsweise) schwacher drohender Strafe den Verhaltenswechsel bewirkt. Wenn mit solchen Fällen zu rechnen ist, dann gibt es eine günstige Aussichtswirkung, und von Schuld sollte gesprochen werden - andernfalls nicht.

Unfreiheit Nummer 4: Determinierte Abläufe. Selbst wenn keine der bisher untersuchten Arten von Unfreiheit besteht; wenn Informationen verarbeitet werden und zu Entscheidungen führen, und wenn das wünschenswerte Verhalten im Rahmen des Machbaren liegt und nicht mit erdrückenden Nachteilen behaftet ist, bleibt doch Raum, eine weitere Unfreiheit zu unterstellen. Es ist möglich, dass ein Informationsverarbeitungsprozess, der Entscheidungen hervorbringt, unausweichlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und deshalb mitsamt seinen Ergebnissen durch die Ausgangssituation vollständig vorherbestimmt ist. Besondere Relevanz erhält dieses Szenario durch die Einsicht, dass das menschliche Gehirn nicht über den Naturgesetzen steht. Wenn man diese also in der Weise auffasst, dass alle Vorgänge durch ihre Ursachen determiniert sind, dann wäre es sehr zweifelhaft, Gleiches nicht auch über das Denken anzunehmen.

Die beschriebene Situation wird gern so formuliert, dass der Handelnde gar nichts anderes tun "kann" als das, was er tut. Allerdings ist das irreführend, da es zur Verwechslung mit den anderen Arten von Unfreiheit geradezu drängt; hier soll weiterhin von Vorherbestimmtheit gesprochen werden, um die Trennung der Fälle zu wahren. Tatsache ist: Wenn in Bezug auf das menschliche Denken diese Art von Unfreiheit erstens besteht und zweitens Schuldunfähigkeit bedeutet, dann ergibt die Welt der Menschen keinen Sinn, denn dann existiert schlichtweg keine Schuld; jede Strafe wäre falsch.

Die entscheidende Frage ist wieder: Gibt es eine Aussichtswirkung? Und selbstverständlich gibt es die hier, denn das Wissen über bestehende Regeln fließt in den Prozess der Informationsverarbeitung ein und ändert sein Ergebnis, ob dieser Prozess nun durch den Anfangszustand determiniert ist oder nicht. Das Wissen gehört zum Anfangszustand.

Vielleicht ist es leichter zu verstehen, welche Konsequenzen diese spezielle Art von Unfreiheit hätte und welche nicht, wenn wir vertraute Denkapparate betrachten, von denen wir sicher wissen, dass sie davon betroffen sind: unsere digitalen Computer. Diese Maschinen arbeiten deterministisch, d.h. der Output ist durch Zustand und Input unausweichlich vorherbestimmt. Stellen wir uns also Folgendes vor: Das Gehirn eines Menschen wird ersetzt durch einen dieser Computer. Die Kreatur, die so entsteht, ist im Sinne der aktuellen, vierten Interpretation vollständig unfrei. Das Programm des Computers sei nun so ausgelegt, dass es ein Verhalten wählt, welches nach irgendwelchen Kriterien zu den besten Ergebnissen führt. Bei den Vorhersagen, die während dieser Berechnung aufgestellt werden, spielt auch die Information über Strafregeln eine Rolle, und bei aufwändiger Programmierung auch die Einschätzung der Glaubwürdigkeit dieser Regeln anhand des Wissens über vergangene Vorkommnisse. Dieses (vermeintlich) absolut unfreie Wesen würde deshalb sein Verhalten ändern in Abhängigkeit davon, wie in der Gemeinschaft mit Schuld umgegangen wird. Es reagiert auf Strafregeln, die folglich eine Aussichtswirkung haben. Von Schuld kann und sollte gesprochen werden.

Die Frage, ob das menschliche Denken mitsamt seinen Ergebnissen vorherbestimmt ist, spielt für die Sinnhaftigkeit von Schuld also keine Rolle. Schuld hat die beabsichtigte Wirkung auch dann, wenn in diesem Sinne keine Freiheit besteht. In der vierten Interpretation ist die untersuchte Behauptung falsch.

Übertragbarkeit von Ethik

Es war klar geworden, dass es für eine Gemeinschaft bessere und schlechtere Ethiken gibt, wobei die besseren - mit dem Maßstab der eigenen Vorlieben - zu größerem Erfolg verhelfen. Auf der Erde leben sehr viele Gemeinschaften mit unterschiedlichen kulturellen Ethiken. Wir wissen, wie umständlich und langsam die Annäherung der kulturellen an die optimale Ethik verläuft. Dass sich diese Entwicklung in allen Gemeinschaften auf dem gleichen Stand befindet, ist sehr unwahrscheinlich. Vielmehr wird es in der Qualität der kulturellen Ethiken deutliche Unterschiede geben, und das bedeutet: Die globale Ungleichheit bei Dingen wie Gesundheit, Lebenserwartung oder Wohlstand erklärt sich zum Teil aus unterschiedlich leistungsfähigen Ethiken.

Die hohe Lebensqualität, die wir seit ein paar Generationen in der westlichen Welt genießen, ist also auch das Ergebnis einer vergleichsweise hochentwickelten Ethik. Das ist keine westliche Arroganz, sondern eine objektiv wohlbegründete Annahme. Umgekehrt ist es naiv zu glauben, man könne unsere Lebensqualität durch Kopieren allein technischer und politischer Errungenschaften in beliebige Länder der Erde übertragen.

Die Frage ist nun: Können Gemeinschaften voneinander lernen? Ist eine kulturelle Ethik, die gut ist für eine Gemeinschaft, auch gut für eine andere?

Wenn Ethik durch Lebensumstände und Vorlieben bestimmt ist, dann ist die optimale Ethik für verschiedene Gemeinschaften mit verschiedenen Lebensumständen und verschiedenen individuellen Vorlieben natürlich verschieden. Was die Vorlieben betrifft, so ist das aber gleich wieder zu relativieren. Ein großer Teil der menschlichen Vorlieben liegt in der Biologie begründet, und die unterscheidet sich nun mal kaum. Menschen sind gern gesund, wünschen sich ein langes und erfülltes Leben, sehen gern Kinder und Enkel aufwachsen. Das ist in Europa nicht anders als im Urwald Neuguineas. Die Unterschiede bei den Vorlieben liegen eher in Details, zum Beispiel bei Ritualen, Speisen oder der Frage, in welchem Maße man sich die Mitmenschen bekleidet wünscht.

Dazu kommt, dass große Teile der kulturellen Ethik gar nicht auf bestimmte Vorlieben zielen. Viele unserer ethischen Konzepte sind universell; sie handeln nicht von Speisen und Bekleidung, sondern von Organisation. Es sind Konzepte wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Eigenverantwortung, Eigentum. Sie dienen nicht einzelnen Vorlieben, sondern einer Unzahl davon. Zum Beispiel profitiert der Mensch bei sehr verschiedenen Vorlieben vom technischen Fortschritt und somit von den Regeln, die ihn befördern.

Schwerer wiegen da wohl die verschiedenen Lebensumstände. In dieser Hinsicht sind sicherlich Unterschiede zwischen Gemeinschaften denkbar, die deutliche Abweichungen in den optimalen Ethiken nach sich ziehen würden, zum Beispiel:

  • völlig verschiedene Größe,
  • völlig verschiedene Arbeitsproduktivität,
  • eine Gemeinschaft ernährt sich selbst, während die andere von außen versorgt wird.

Aber je weniger sich zwei Gemeinschaften hinsichtlich solcher fundamentalen Parameter unterscheiden, umso größer ist der gemeinsame Teil ihrer optimalen Ethiken. In diesem Bereich sind ihre kulturellen Ethiken vergleichbar. Wenn sie sich unterscheiden, dann ist eine die bessere. Welche das ist, lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit an der Lebensqualität ablesen.

Besondere Bedeutung bekommen diese Überlegungen, wenn sich zwei Gemeinschaften mit verschiedenen "Kulturen", wie es gern formuliert wird, vermischen. Dabei ist der Begriff "Kultur" nicht sehr glücklich, denn er vermengt die Ethik einer Gemeinschaft mit ihren vorherrschenden Vorlieben. Vorlieben und Ethik haben aber einen ganz verschiedenen Charakter, sie müssen verschieden diskutiert und verschieden gehandhabt werden. Mit dem Schwadronieren über Kultur wird man diesem Unterschied nicht gerecht, deshalb empfiehlt es sich, von vornherein in Vorlieben und Ethik zu differenzieren.

Kommt es also zu einer solchen Vermischung zweier Gemeinschaften, dann sollte sich jede der beiden genau ansehen, welche Gesamtwirkung die fremde Ethik in der Welt entfaltet, in der sie gilt. Zieht sie diese Welt insgesamt der eigenen vor, dann sollte sie die eigene Ethik aufgeben und die fremde übernehmen. Zieht sie dagegen die Wirkung der eigenen Ethik vor, dann sollte sie auch für deren Erhalt kämpfen.

Wenn der Grund für die Vermischung eine freiwillige Wanderung ist, dann ist die Situation eindeutig: Die Wanderer wechseln in die neue Gemeinschaft, weil sie das Leben dort vorziehen. Worin auch immer sie die Vorteile sehen, sie müssen davon ausgehen, dass sie auch aus der überlegenen Ethik der neuen Gemeinschaft erwachsen. Können die Zuwanderer also ihre "Kultur" beibehalten? Nein! Sie können viele ihrer Vorlieben beibehalten, aber nun verbunden mit der neuen Ethik. Von der alten müssen sie sich ganz überwiegend trennen.

Es bleibt die Frage, woran praktisch unterschieden werden kann, was aufzugeben ist, und was beibehalten werden kann. Dabei gibt es sicher schwierige Fälle. Zum Beispiel bewegen sich Sitten in einem Spektrum zwischen wichtiger, weil vorteilhafter Norm (also Ethik) und bedeutungslosem Herdentrieb (also Vorliebe). Manche Sitten tendieren klar zur Ethik, zum Beispiel die Sprache; sie sind von den Zuwanderern zu übernehmen. Für andere Sitten gilt das recht eindeutig nicht, und bei dritten ist die Lage kompliziert. Auf der anderen Seite gibt es einen großen Bereich, in dem die Ethik der aufnehmenden Gemeinschaft klare Aussagen trifft. Dies ist die Ethik, die bestehen bleibt! Ihre Pflichten bleiben Pflichten, ihre Verbote bleiben Verbote, ihre Freiheiten bleiben Freiheiten. Alles, was damit nicht vereinbar ist, müssen die freiwilligen Zuwanderer über Bord werfen, so wichtig es ihnen auch gewesen ist.

Asymmetrien

Ethik entsteht durch das Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Dieses gedankliche Konstrukt hat für alle unsere Überlegungen zur Ethik den Rahmen gebildet: die "Gemeinschaft". Die Mitglieder einer Gemeinschaft sind die Praktizierenden und gleichzeitig die Begünstigten einer Ethik. Nur die Gemeinschaft macht unsere Argumente möglich. Existiert in Bezug auf zwei Wesen keine Gemeinschaft, der sie beide angehören, dann gibt es keine Ethik, die sie beide umfasst, und folglich lässt sich auch eine Forderung nach ethischem Verhalten des einen gegenüber dem anderen nicht begründen.

Aber was genau ist eine Gemeinschaft? Und was ist keine?

Solange nur von Menschen die Rede ist, die an einem Ort und in einer Zeit zusammen leben, ist die Sache klar: Sie bilden immer eine Gemeinschaft. Sie sind in der Lage, Regeln einzuhalten, und sie können davon profitieren.

Aber was ist mit all den anderen Fällen, in denen ein Wesen mit seinem Verhalten die Situation eines anderen mitbestimmt? Liegen dort Gemeinschaften im Sinne der Ethik vor? Welche Empfehlungen kann der neutrale Theoretiker geben für das Verhalten von:

  • Menschen gegenüber Menschen an einem entfernten Ort,
  • Menschen der Gegenwart gegenüber ihren Nachkommen in der Zukunft,
  • Menschen gegenüber Tieren,
  • Menschen gegenüber intelligenten Maschinen,
  • mächtigen Außerirdischen gegenüber den Lebewesen der Erde?

Einer dieser Fälle ist als vergleichsweise einfach erkennbar, denn dort liegt nur scheinbar eine Asymmetrie vor. Es ist der zweite in der Liste, das Verhalten gegenüber den Nachkommen. Alle an diesem Szenario Beteiligten, die Lebenden genauso wie ihre Vorfahren und ihre Nachkommen, befinden sich in der gleichen Situation: Die Regel, die Interessen der Nachkommen angemessen zu berücksichtigen, können alle befolgen, und gleichzeitig profitieren alle von ihr. Deshalb handelt es sich aus Sicht der Ethik um eine normale Gemeinschaft, nur die Art der Symmetrie ist ungewöhnlich. Mit anderen Worten: Ethik gegenüber den Nachkommen ist geboten - nicht, weil das die vorherrschende Meinung unserer Zeit so will, sondern weil es sich der Gesamtheit der Generationen im eigenen Interesse empfehlen lässt.

Für die übrigen Fälle lässt sich zumindest eine allgemeine Einschränkung recht schnell erkennen. Echte Ethik kann nur auf Gegenseitigkeit beruhen. Es kann keine Gruppen geben, die eine gemeinsame Ethik mit anderen Gruppen nur befolgen müssen, aber nicht von ihr profitieren, denn so etwas ist als neutrale Empfehlung nicht zu begründen. Eine solche Gruppe würde aber entstehen, wenn nur ein Teil der Gemeinschaft überhaupt in der Lage wäre, Regeln zu befolgen. Im Falle einer natürlichen Ethik ergeben sich daraus keine Einschränkungen; selbst einer Ameise kann die Evolution eine Ethik geben. Über die natürliche Ethik diskutieren wir hier aber nicht; wir können sie nicht verändern. Unsere Fragen zielen auf die Existenz und Ausgestaltung kultureller Ethiken, und in diesem Bereich gibt es sehr wohl eine große Anzahl von Wesen, die eventuelle Regeln gar nicht einhalten könnten. Um Teil einer Gemeinschaft sein zu können, die eine kulturelle Ethik betreibt, muss ein Wesen entweder in der Lage sein, Ethik selbst zu erkennen (was praktisch eher selten der Fall sein dürfte), oder die Verhaltensregeln müssen ihm erklärt, zumindest aber anerzogen werden können. Gegenüber Wesen, die das gar nicht können, lassen sich keine ethischen Gebote begründen.

Es gibt also einerseits Szenarien, in denen Ethik klar geboten ist, und andererseits solche, in denen das klar nicht der Fall ist. Dazwischen tut sich eine Fülle von unterschiedlichen asymmetrischen Konstellationen auf. Hier sind auch Ethiken denkbar, die selbst asymmetrisch sind, zum Beispiel beim Zusammenleben von Mensch und Hund. Insgesamt ist dieser Bereich für den Theoretiker sehr schwierig. Man kann nicht erwarten, in das kontinuierliche Spektrum von asymmetrischen Gruppen eine scharfe Grenze legen zu können, an der eine ordentliche Gemeinschaft plötzlich aufhört, überhaupt eine zu sein. Die Logik mit ihren diskreten Kategorien stößt hier an ihre Grenzen.

Am Ende kann die Diskussion des Begriffs "Gemeinschaft" auch höchstens die Frage klären, ob ethisches Verhalten in einer bestimmten Situation geboten ist oder nicht. Das Nichtbestehen eines Gebots ist keineswegs ein Verbot. Dem Einzelnen bleibt auch ohne Gebote in den meisten Fällen die Freiheit, Rücksicht oder sogar hochgradigen Fremdnutz zu wählen; motiviert durch eigene Vorlieben, zum Beispiel seine natürliche Ethik. Das ist dann aber ein Privatvergnügen, aus dem sich keine moralische Überlegenheit ableiten lässt. Es besteht eine gewisse Neigung, solchen Bemühungen mit pseudo-logischen Argumenten und wissenschaftlich wirkenden Ausführungen den Anschein von objektiver Richtigkeit zu geben. Aber dabei handelt es sich bestenfalls um eine Präzisierung der eigenen Vorlieben. Daraus eine allgemeine Forderung zu machen, wäre die pure Missionierung.

 

Ende