Kapitel 2: Ethik  •  Abschnitte 4 bis 9

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Die natürliche Ethik

Tiere werden bekanntlich vorwiegend durch Instinkte gelenkt. Nicht die Einsicht ihres Verstandes ist es, die sie zu vorteilhaftem Verhalten bewegt, sondern ihre Gefühlswelt. Hunger und Durst sichern den Stoffwechsel, Lust die Fortpflanzung, Müdigkeit Schlaf. Angst schützt vor Gefahren. Immer steht hinter dem Gefühl ein eigentlicher Nutzen. Dieser Nutzen ist zwar nicht der Anreiz für das Verhalten, denn dazu bedürfte es einer ausreichenden Intelligenz, wohl aber ist er sein wahrer Grund und die Ursache dafür, dass die Evolution das Wesen mit einem entsprechenden Gefühl überhaupt ausgestattet hat.

Oft ist instinktgerechtes Verhalten mit körpereigenen Belohnungen verbunden, zum Beispiel das Trinken mit dem anschließenden angenehmen Gefühl, den Durst gelöscht zu haben. Der wahre Nutzen des Trinkens ist aber nicht das gute Gefühl: Es geht darum, den Körper vor dem Austrocknen zu bewahren, letztendlich also ums Überleben. Und so verhält es sich ganz allgemein mit körpereigenen Belohnungen: Sie vertreten nur einen Zweck, sie sind nicht der Zweck. Der eigentliche Nutzen von gefühlsgetriebenen Verhaltensmustern liegt immer außerhalb der Gefühlswelt.

Auch unsere menschlichen Gefühle sind von dieser Art; erwachsen aus der Evolution mit der einzigen Maßgabe Nützlichkeit. Wir haben Hunger und Durst, Lust und Angst. Das Verhalten, das für das Individuum vorteilhaft ist, wird durch Gefühle abgesichert, die dieses Verhalten fördern.

Wenn man sich nun etwas Zeit nimmt und all die verschiedenen menschlichen Gefühle einzeln auf diese Art zu erklären versucht, dann zeigt sich Erstaunliches. Es gibt in unserer Gefühlswelt Elemente, für die eine solche einfache Argumentation nicht gilt. Bei einigen der Gefühle ist ein direkter individueller Vorteil noch mit Mühe erkennbar, etwa bei Liebe, Neid oder Hass. Bei anderen aber schwerlich. Wo liegt bei einem guten oder schlechten Gewissen der reale Nutzen für den Organismus? Warum haben wir den emotionalen Wunsch, anderen, die in Not sind, zu helfen, und sind glücklich, nachdem wir es getan haben? Und was in aller Welt ist überlebenswichtig am Durst nach Rache? Auch diese Gefühle müssen einen Nutzen haben, denn sie sind genauso Produkte der Evolution wie Hunger und Angst.

Die Erklärung dieses Nutzens liegt in der Tatsache, dass wir Menschen in einer Gemeinschaft leben. Das Überleben des Einzelnen hängt dort nicht nur von seinem eigenen Verhalten ab, sondern auch von dem der Artgenossen. Wenn er zum Beispiel krank oder verletzt ist, dann hängt sein Leben am Altruismus der anderen. Die allgemeine Regel, Schwache zu unterstützen, steigert die Überlebenschancen für alle Individuen der Spezies. Und weil unsere Vorfahren schon seit Millionen von Jahren in Gemeinschaften zusammenleben, ist diese Regel als Resultat eines langen Selektionsprozesses zum Bestandteil des menschlichen Instinkts geworden, realisiert mittels Gefühlen. Gleiches ist mit anderen vorteilhaften Regeln passiert. Sie bilden zusammen die natürliche, intuitive Ethik des Menschen.

Worin der Vorteil einzelner Regeln der natürlichen Ethik besteht, lässt sich in den meisten Fällen leicht erkennen. Manchmal liegt er, wie bei der Hilfsbereitschaft, in der Anwendungswirkung der Regel. Andere natürlich-ethische Regeln dagegen verdanken ihre Existenz offenbar der vorteilhaften Aussichtswirkung, allen voran Dankbarkeit und Rache. Wer also bei den Ausführungen über die Aussichtswirkung von Regeln in den vorangegangenen Abschnitten geglaubt hat, dass nur festgeschriebene Gesetze solche Wirkungen haben können, der wird schon durch die natürliche Ethik eines Besseren belehrt.

Hinsichtlich der Zielrichtung der natürlichen Ethik sollte man sich keinen romantischen Träumereien hingeben. Es mag sein, dass sie abstrakte Größen wie Glück nebenher irgendwie begünstigt, aber der eigentliche Zweck der natürlichen Ethik liegt darin ganz klar nicht. Die Regeln zielen einzig und allein auf das Überleben der Art. Die natürliche Auslese interessiert sich nicht für Glück.

Die kulturelle Ethik

Gegenüber der Welt, in der unsere Vorfahren tausende von Generationen lang ums Überleben gekämpft haben, und die folglich die Heimat unserer natürlichen Ethik ist, hat sich die moderne Welt stark verändert. Deshalb ist die natürliche Ethik für die Welt von heute nicht mehr völlig passend. Die Reaktion darauf ist seit Jahrtausenden im Gange: Es hat sich eine zweite, kulturelle Ethik gebildet, die die natürliche ergänzt und korrigiert. Diese kulturelle Ethik ist nicht im Instinkt verankert. Sie muss aktiv von Generation zu Generation weitergegeben werden, was zum Beispiel im Rahmen der Erziehung geschieht. Während junge Menschen die Regeln der natürlichen Ethik weitgehend von sich aus befolgen, müssen ihnen die Regeln der kulturellen Ethik durch wiederholte Ermahnungen und Erklärungen beigebracht werden. Zum Beispiel, dass Gegenstände meistens einen Besitzer haben, und man deshalb nicht ohne Weiteres über sie verfügen kann. Oder, dass man Müll nicht einfach fallen lassen darf, sondern der Entsorgung zuführen sollte.

Die Gründe für die Überholtheit der natürlichen Ethik sind so vielfältig wie die Arten, auf die sich die Welt verändert hat.

Erstens hat der moderne Mensch - im Gegensatz zu einem typischen Vorfahren in der Entwicklungsgeschichte - ein beträchtliches Mehrprodukt. Er hat eine beispiellos große (und weiter anwachsende) Freiheit gewonnen, Vorlieben jenseits des nackten Überlebens nachzugehen. Diesen Bestrebungen dient die natürliche Ethik aber bestenfalls im Nebeneffekt, denn sie kennt als Zweck nur das Überleben.

Zweitens hat sich die Organisation der Menschen stark verändert. Statt kleiner, weitgehend unabhängiger Horden bilden sie riesige Staaten. Ein Teil der Ethik ist nun in präzisen Gesetzen festgeschrieben, die von Organen der Gemeinschaft überwacht werden.

Drittens enthält die moderne Welt neue Elemente und Situationen, zu denen sich in der natürlichen Ethik schon aufgrund ihres Alters keine Aussagen finden können.

So kam es also zu einer Entwicklung der Ethik. So, wie die Menschen zunehmend künstliche Gegenstände wie Kleidung, Werkzeuge und Schmuck mit sich führten, um ihr Leben über die Möglichkeiten der körperlichen Anlagen hinaus zu verbessern, wuchs auch ihre Ethik um Elemente, die es in der nackten menschlichen Natur nicht gibt. Neue Konzepte setzten sich durch, zum Beispiel das Eigentum. Auf der anderen Seite bildeten sich überholte Konzepte der natürlichen Ethik zurück - was freilich nicht mehr bedeuten konnte, als dass die entsprechenden Instinkte nun unterdrückt wurden. So zum Beispiel beim Konzept der Rache, für das sich ein leistungsfähigerer Nachfolger entwickelt hat: die auf ein Strafrecht gestützte Justiz.

Wieder andere Konzepte sind im Kern erhalten geblieben, mussten sich aber verändern. Die natürliche Ethik ist in der kleinen Horde gewachsen, also in einer Situation, in der jeder jeden kennt, und wo es keine großen Geheimnisse gibt. Das recht umfassende Wissen über die Mitmenschen ist die Grundlage der natürlichen Ethik, und einige ihrer Konzepte sind auf dieses Wissen angewiesen. Stellt man sich zum Beispiel die natürliche Solidarität am Szenario der kleinen Horde vor, dann wird klar, dass es sich dabei keineswegs um die formale Regel handelt, jedem zu helfen, der wenig leistet. Wenn sich ein junger, kräftiger Mensch jeden Tag mit einem anderen Wehwehchen von der gemeinsamen Nahrungsbeschaffung entschuldigt, dann hat die Solidarität schnell ein Ende. Natürliche Solidarität ist nicht pauschal, sie ist intelligent; sie hängt von sehr genauen Informationen ab. In dieser Form war sie in den Millionenstaat mit seinen Behörden und Paragraphen nicht übertragbar. Eine stärker formalisierte Solidarität mit geringerem Informationshunger konnte dort aber sehr wohl funktionieren. Natürlich stimmten deren Regelungen dann nicht in jedem Einzelfall mit dem überein, was die natürliche Solidarität gebieten würde; es war eine Entwicklung nötig.

Was sollte Ethik sein?

Fassen wir kurz zusammen: Der Zweck der natürlichen Ethik ist das Überleben. Daneben findet eine Entwicklung der Ethik statt, so dass sie nicht nur neuen Lebensumständen gerecht werden, sondern auch zusätzlichen Zwecken dienen kann.

Aber was sollten diese neuen Zwecke sein? Durch die Natur sind sie nicht vorgegeben.

Was also ist wichtig oder erstrebenswert?

Es ist verlockend, an dieser Stelle konkrete Vorlieben in den Gedankengang einzubringen, zum Beispiel unsere eigenen. Fortschritt, Erkenntnis, Vielfalt, Weltfrieden. Aber mit welcher Begründung könnten wir derartiges tun? Vorlieben sind individuell verschieden. Richtig ist nur, dass die Vorlieben des Theoretikers maßgebend sind für sein eigenes Verhalten, aber welche Logik könnte sie auf die Allgemeinheit ausbreiten? Keine, natürlich. Kein Instrument des Denkens macht aus der Vorliebe Einzelner, wie klug sie auch sein mögen, eine allgemeine Forderung. Das Verhalten der Menschen kann an keinen anderen Vorlieben gemessen werden als ihren eigenen. Deshalb kann eine kulturelle Ethik nur durch die individuellen Vorlieben der Menschen gerechtfertigt sein, worin auch immer sie bestehen.

Das wirft nun eine Frage auf - und sie ist der Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Ethik. Menschen verfolgen doch ihre Vorlieben von ganz allein, was könnten ethische Regeln daran noch verbessern?

Das folgende Beispiel ist hypothetisch. Stellen wir uns vor, in einer antiken Stadt leben verschiedene Religionsgemeinschaften, die ihren jeweiligen Göttern möglichst prächtige Tempel bauen möchten. Spielen wir zuerst den Fall durch, dass keine Ethik praktiziert wird: Alle optimieren kühl, ohne Rücksicht auf fremde Interessen und frei von jeglicher ethischen Gefühlswallung ihre individuellen Bestrebungen. Was ist unter diesen Umständen für jede der Gruppen die perfekte Quelle von Baumaterial? Es sind die Tempel der jeweils anderen. Die Steine aus dem Berg zu brechen und mühsam zu behauen, wäre schlicht ein Fehler, solange nur die eigenen Interessen zählen, denn dann ginge es mit der gleichen Arbeitsleistung viel langsamer vorwärts. Die Tempel der anderen zu plündern, ist das effizienteste Vorgehen, um dem eigenen Ziel zu dienen. Die Idiotie der Methode erkennt man erst im Gesamtbild: Es kommt kein Fortschritt zustande, weil die Gesamtmenge an Baumaterial nicht wächst. Jahrzehnte später wäre man immer noch damit beschäftigt, fremde Arbeit zu zerstören und Steine zwischen halbfertigen Bauten hin- und herzutragen.

Mit Ethik kann das ganz anders aussehen. Würden alle Baumeister die Regel befolgen, bestehende Arbeit zu respektieren, dann gäbe es keine Alternative mehr zum Steinbruch, und jede der Gruppen könnte ihr Projekt langsam, aber beständig gedeihen sehen. Es ist paradox: Das kompromisslose Maximieren des Erfolgs maximiert ihn gerade nicht.

Im vorletzten Abschnitt hatten wir erkannt, dass die natürliche Ethik deshalb nützlich für das Überleben ist, weil Menschen in einer verflochtenen Gemeinschaft zusammenleben. Die Ursache für die Vorteilhaftigkeit der kulturellen Ethik mit ihrem erweiterten Zweck ist exakt die gleiche. Der Einzelne entscheidet mit seinem Verhalten nicht nur über die Veränderung seiner eigenen Situation, sondern gleichzeitig über die Veränderung der Situation anderer. Die Art und Weise dieser Wirkung kann recht komplex sein, aber es gibt auch sehr einfache Fälle. In unserem Beispiel ohne Ethik werfen die Handelnden andere Personen in ihren Bemühungen ganz direkt zurück. Das ebenso einfache positive Gegenstück dazu wäre, sie darin direkt voranzubringen. Bei einem Verhalten, das nur den individuellen Nutzen sieht, bleiben solche Nebeneffekte völlig unberücksichtigt, und deshalb ist es insgesamt weniger effizient als eins, das ethisch geregelt ist.

Die kulturelle Ethik ergibt also Sinn, und sie ist keine Forderung des Theoretikers auf der Grundlage irgendwelcher Vorlieben, die er edel findet. Der Theoretiker legt keine neuen Ziele und Prioritäten fest, sondern untersucht Werkzeuge, mit denen eine Gemeinschaft ihren bestehenden individuellen Zielen und Prioritäten besser gerecht werden kann. Aus Sicht der Theorie ist die kulturelle Ethik keine Forderung, sondern eine Empfehlung. Zu Geboten werden die empfohlenen Regeln erst bei der Annahme durch die Gemeinschaft, und dann sind sie begründet durch die individuellen Vorlieben der Mitglieder.

Die Systematiker der Philosophie bezeichnen diese Denkweise als Utilitarismus und reduzieren sie zu einem unter vielen möglichen Standpunkten zur Ethik. Aber solche Nivellierung ist unangebracht, denn all die anderen Standpunkte sind kein Wissen. Als Empfehlung im eigenen Interesse ist Ethik kritisierbar, während jede andere "Ethik" immer präskriptiv, metaphysisch und unbegründet bleibt.

Im Beispiel der Tempelbauer ist der Vorteil der Regel geradezu mathematisch offenbar. Das liegt daran, dass es in gewisser Hinsicht extrem einfach ist: Es kommt darin nur einen Wunsch vor, den alle Akteure teilen, und nur eine Regel, die sie einhalten müssen, um ihn sich besser erfüllen zu können. Die Regel, die jedem der Beteiligten ethisch geboten ist, ist die gleiche wie die, aus der ihm selbst ein Gewinn erwächst. Man müsste unseren Helden wohl nicht lange erklären, was der Zweck von Ethik ist.

Meistens ist die Lage komplizierter, denn verschiedene Menschen haben verschiedene Wünsche. Es entsteht Asymmetrie: Die einen Regeln befolgt der Mensch, und von den anderen profitiert er. Ein Mann überlässt in der U-Bahn einer Schwangeren seinen Sitzplatz, obwohl er selbst niemals schwanger sein wird. Dann erkundigt er sich bei einem dritten Fahrgast, an welcher Station er günstigerweise aussteigen sollte, und dieser gibt Antwort, obwohl er selbst nie derartige Fragen stellt. Die mathematische Klarheit ist verschwunden, was aber den Vorteil für die Beteiligten nicht mindert.

Diese Überlegungen zeigen eine einfache Klasse von ethischen Regeln auf, die ihre Vorteilhaftigkeit schlicht ihrer Anwendungswirkung verdanken. Sie genügen, um den Sinn von kultureller Ethik unter Beweis zu stellen. Keinesfalls ist damit aber die Gesamtheit aller sinnvollen Regeln umrissen. Sowohl die natürliche als auch die kulturelle Ethik zeigen zum Beispiel, dass die Aussichtswirkung bei Regeln nicht nur als Störfaktor in Erscheinung tritt, sondern Regeln allein und gegen eine ungünstige Anwendungswirkung rechtfertigen kann.

Es dürfte schwierig sein, eine komplette Aufstellung der Arten vorzunehmen, auf die Regeln mit ihren komplexen Aussichtswirkungen vorteilhaft sein können. Einiges lässt sich erahnen. Regeln belohnen Dienliches und bestrafen Schädliches. Sie setzen Normen, machen so die Vorgänge für den einzelnen berechenbarer und vergrößern damit seinen Erfolg. Sie führen zu effizienteren Prozessen. Manche aus Erfahrung gewonnene Regel tut vielleicht nicht mehr, als die Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu bewahren. Auch ist denkbar, dass es Gruppen von Regeln gibt, die nur gemeinsam vorteilhaft sind.

Aber so komplex das Gebilde Ethik am Ende auch ist: Es ist durch nichts begründet als durch die individuellen Vorlieben seiner Betreiber. Damit ist klar, wie Ethik sich in unseren Entscheidungsprozess einfügt: Ethik ist Vernunft. Nur ist es eben nicht nur die eigene Vorliebe, durch die sie entsteht, sondern es sind vor allem fremde. Man könnte Ethik also kollektive Vernunft nennen.

(Keinesfalls ist mit diesen Überlegungen aber eine alte Unsitte bestätigt. Richtig ist: Die individuellen Vorlieben in der Gemeinschaft bestimmen die Ethik. Falsch ist: Diese Vorlieben sind einfach zu ethischen Geboten zu erheben. Ein solches Vorgehen wäre erstens nutzlos, und zweitens könnte es in Anbetracht der Verschiedenartigkeit individueller Vorlieben bestenfalls bedeuten, den Geschmack der Mehrheit zur Vorschrift zu machen. Für einige kollektive ethische Verfehlungen der Vergangenheit sind genau "Werte" dieser Art verantwortlich, zum Beispiel beim Umgang mit Homosexuellen. Ethik dient Vorlieben, sie bildet sie nicht einfach ab.)

Ethik als Vereinbarung

Die Vorstellung von der Ethik als "Empfehlung für eine Gemeinschaft" ist recht bequem. Auf dieser Ebene sind die Vorteile ethischen Verhaltens vergleichsweise leicht zu erkennen, und die Frage nach der Umsetzung spielt für den Wahrheitsgehalt der bloßen Empfehlung keine Rolle. Sie ist nicht mehr als eine korrekte Aussage über Ursache und Wirkung.

Letztendlich gibt es diese Adresse "Gemeinschaft" aber nicht; alle Entscheidungen werden am Ende von Individuen getroffen. Deshalb stellt sich die Frage, in welcher Gestalt die Empfehlung für die Gemeinschaft auf der Ebene des Einzelnen ankommt. Ist sie dort nach wie vor eine Empfehlung? Findet sich der Vorteil für die Gemeinschaft bei ausnahmslos jedem ihrer Mitglieder als individueller Vorteil wieder?

Im Beispiel der Tempelbauer ist das tatsächlich der Fall. Wird dort der Empfehlung Folge geleistet, dann gelangen alle Tempel zur Vollendung, nicht nur einige. Es sind aber auch ganz andere, sehr ungünstige Szenarien denkbar. Stellen wir uns vor, in einer Gemeinschaft kämen Einzelne regelmäßig in die Lage, ihr Leben opfern zu können, um das von jeweils fünf anderen zu retten. Unter der Annahme, dass alle sich ein möglichst langes Leben wünschen, müsste man hier die allgemeine Empfehlung geben, sich für das Opfern zu entscheiden. Für diejenigen, die am Ende die Opfer sind, wäre das aber kein guter Ratschlag, sondern ein schnöder Befehl - so scheint es.

Wenn die Ethik für Einzelne keine Empfehlung darstellt, dann ist sie für diese auch nicht durch eigene Vorlieben begründet, und andere Begründungen haben wir nicht gefunden. Die Ethik wäre dann nur mit Dogmen zu retten, welche die fehlende Begründung herstellen - zum Beispiel dem, dass das Wohl von vielen mehr wiegt als das von wenigen. Derartiges hatten wir aber gleich zu Beginn des Kapitels ausgeschlossen. Wir können keine Dogmen aufstellen und müssten die Existenz von Ethik in solchen Fällen deshalb ablehnen.

Im Übrigen sollte man auch nicht glauben, ein solches Dogma sei eine wunderbare, einfache, unproblematische Lösung. Die Formulierung über das Wohl von den vielen und den wenigen, so schick und fast schon logisch, ist erheblich interpretierbar, und eine Präzisierung ist nur nach Gutdünken möglich. Zählen zwei Mäuse mehr als ein Mensch? Schließlich sind es zwei! Oder zählen erst tausend Mäuse mehr als ein Mensch? Und zählt dann ein Wal so viel wie tausend Menschen? Oder sollte man besser die Größe des Gehirns zum Maßstab nehmen? Oder zählen überhaupt nur Menschen; Mäuse und Wale gar nicht? Mit ethischen Dogmen begibt man sich ins gruselige Reich der willkürlichen Festlegung von Gut und Böse.

Aber es braucht auch gar kein Dogma, um eine Empfehlung für die Gemeinschaft umzusetzen, denn sie ist für jedes Mitglied dieser Gemeinschaft vorteilhaft; nur meistens auf eine andere Art, als man zunächst erwartet. Das reicht, tatsächlich, bis hin zur Selbstopferung, dem ultimativen Akt der Uneigennützigkeit. Auch sie kann Teil einer Strategie sein, die eigennützig begründet ist.

Um das zu verstehen, müssen wir uns lösen von allzu simplen Vorstellungen über Entscheidungen zum eigenen Vorteil. Die Regeln einer Ethik bestehen permanent, sie werden nicht von Begebenheit zu Begebenheit nach den jeweiligen Umständen neu erdacht. Sie beschreiben das Verhalten in Fällen, von denen noch nicht bekannt ist, ob, wann und wie sie eintreten werden. Sie sind stille Vereinbarungen.

Vereinbarungen erlauben es einer Gruppe von Akteuren, Vorteile zu erlangen, die mit einem rein ereignisgetriebenen Verhalten nicht möglich wären. An unserem Opfer-Szenario wird das sehr schnell klar. Die günstige Regel könnte dort in der Anweisung bestehen, sich gegebenenfalls für die anderen zu opfern. Mit dem Aufstellen dieser allgemeinen Regel erfreuen sich die Mitglieder der Gemeinschaft verbesserter Zukunftsaussichten, und zwar zunächst alle. Die Wahrscheinlichkeit, eines frühen Todes zu sterben, ist geringer. Wer am Ende das Opfer bringen muss, der hat eben Pech. Unter anderen Umständen wäre er es gewesen, der gerettet wird, und das war sogar viel wahrscheinlicher. Das Eigennützige am Selbstopfer in unserem Extrem-Szenario ist nicht die Handlung selbst, sondern es war die Vereinbarung, der sie folgt.

Natürlich sind die guten Aussichten, die aus der Vereinbarung resultieren, nur dann echt und keine Täuschung, wenn die Regel im Ernstfall tatsächlich eingehalten wird. Die Beteiligten müssen verstehen, dass sie ihre Wahl bereits getroffen haben und über die gleiche Sache nicht ein zweites Mal im eigenen Interesse entscheiden können. Alles hängt davon ab, ob sie zu einer solchen Leistung imstande sind. Mit der Fähigkeit, eine akzeptierte Regel gegebenenfalls einzuhalten, sehen sie der besseren Zukunft entgegen.

Beispiele wie dieses führen drastisch vor Augen, wie weit ethisches Verhalten, obwohl letztendlich durch eigenen Vorteil begründet, vom Eigennutz der plumpesten Art entfernt sein kann. Es gründet auf ein hohes, manchmal fast übermenschliches Maß an Disziplin. Deshalb hat es durchaus Sinn, ethisches Handeln von Eigennutz im engeren Sinne zu unterscheiden, und wir wollen es, um Verwechslungen zu vermeiden, in diesem Text auch nicht mehr eigennützig nennen.

Das Verständnis von Ethik als Vereinbarung lässt auch ein anderes Licht auf vermeintliche ethische Dogmen fallen. Denn zu den ersten und wichtigsten Abmachungen, die sich jeder Gemeinschaft empfehlen lassen, gehört die Regel, fremde Vorlieben angemessen zu berücksichtigen, was auch den Versuch einer Quantifizierung einschließt. Unter anderem bedeutet das, das Wohl von vielen über das von wenigen zu stellen. Diese Richtlinie ist also berechtigt, aber sie ist kein metaphysisches Dogma, sondern eine Grundsatzvereinbarung im eigenen Interesse. Damit ist auch klar, welchen Spielraum für Interpretation sie dem Theoretiker lässt: Keinen. Die genaue Bedeutung steht fest durch die Interessen der Mitglieder der Gemeinschaft. Das Wohl von Mäusen spielt keine Rolle - außer natürlich, es handelt sich um eine Gemeinschaft von Mäusen.

Die optimale Ethik

Wenn die Gesellschaft sich entwickelt, die Lebensumstände sich verändern, dann muss sich auch die kulturelle Ethik weiterentwickeln. Das passiert nicht automatisch und auch nicht sofort. Es gibt eine Ethik, die für eine Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt optimal wäre (auch wenn sie nicht bekannt ist), und es gibt die tatsächlich praktizierte Ethik, die dieser optimalen Ethik im Allgemeinen nicht entspricht.

Die Anpassung der kulturellen Ethik an die optimale verläuft nicht sehr effektiv, sie funktioniert hauptsächlich über Versuch und Irrtum. Zunächst ist die ethische Diskussion eine Tummelwiese für dominante Zeitgenossen mit allen möglichen Ideen - von genial über interessengeleitet bis verheerend. Auch ganz zufällige Variationen der Ethik sind denkbar. Erst die kollektive Erfahrung bringt Ordnung in diesen Wust: Vorteilhafte Regeln bleiben erhalten und verbreiten sich, während unsinnige früher oder später wieder abgeschafft werden. Wie groß der Abstand zwischen praktizierter und optimaler Ethik sein kann, wird mit einem Blick in die Vergangenheit schnell klar: Über manche Moralvorstellung vergangener Tage können wir heute nur noch den Kopf schütteln.

Allein dieser Unterschied zwischen praktizierter und optimaler Ethik ist schon mehr, als vielen Teilnehmern an ethischen Diskussionen offenbar klar ist. Da wird undifferenziert drauflos argumentiert, so als sei das, was gilt, prinzipiell auch das, was gelten sollte - dabei ist doch der Sinn der Diskussion gerade der, das eine dem anderen anzunähern. Zum Beispiel ist eine ethische Theorie nicht sofort falsch, weil sie es nicht leistet, irgendeine Schrulle der praktizierten Ethik nachzubilden.

Die Frage ist, auf welche Arten sinnvoll über die optimale Ethik diskutiert werden kann.

Vergleichsweise einfach ist dabei der Fall, dass nur die Lücken der bestehenden Ethiken konsistent gefüllt werden sollen, denn deren Aussagen können bei diesem bescheidenen Vorhaben komplett als richtig angenommen werden. Man kann also abstrakte ethische Prinzipien konstruieren, ihre Tauglichkeit an altbekannten Fällen prüfen und sie dann auf die neuartigen, strittigen Fälle anwenden. Die meisten ethischen Diskussionen folgen diesem Muster: Die kulturelle und vor allem die intuitive Ethik sind nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Werkzeug. Dass man auf diese Weise der optimalen Ethik bei den neuen Fragen ähnlich nahe kommt wie bei den alten, ist freilich nicht sicher. Es kann passieren, dass andere ethische Konzepte, die mit dieser Methode in schlechtem Licht erscheinen, in Wahrheit überlegen sind.

Zudem sind solche Überlegungen auch nicht ausreichend. Sie können die bestehende Ethik auf neue Fälle ausdehnen, aber sie können sie nicht substanziell korrigieren. Dazu bedarf es einer Art von Variation, die schwieriger ist - und riskanter. Deshalb ist es wichtig, damit das richtige Maß zu finden. Und es ist absolut möglich, dass das Ergebnis eine Verschlechterung darstellt, so dass man doch zum früheren Konzept zurückfindet.

Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass für diese Art von Entwurf die naheliegendsten ethischen Argumente untauglich sind: Die Aussagen der intuitiven und der kulturellen Ethik können nicht ihr eigener Prüfstein sein. Es muss genau unterschieden werden, welche der gewohnten Begründungen noch zulässig sind und welche nicht. Es sind Dinge in Frage zu stellen, die man nicht in Frage zu stellen gewohnt ist. Als einziges Argument für oder gegen eine neue Regel verbleibt ihre vermutete Wirkung. Jedes emotionale Argumentieren auf der Ebene der Regeln, etwa Betrachtungen über Gerechtigkeit, wären belangloses Geschwätz; ein Rückfall in die intuitive Ethik.

Am Ende ist ungewiss, in welchem Maße die kulturelle Ethik der Zukunft die natürliche korrigieren wird. Der eingeschränkte Zweck der natürlichen Ethik und die falschen Zielumstände besagen nur, dass sie unpassend ist, aber nicht, in welcher Schwere. Viele vorteilhafte Prinzipien des Zusammenlebens sind recht universell; sie bewähren sich unter ganz verschiedenen Umständen. Mancher Teil der natürlichen Ethik wird wohl immer Gültigkeit behalten. Tatsächlich wären einige gräuliche kollektive Fehler der Vergangenheit geringer ausgefallen, hätten die Täter ihre intuitiven Hemmungen nicht so leichtfertig der vermeintlichen Vernunft geopfert.

Tabula rasa?

Eine Idee drängt sich bei all dem auf. Die kulturelle Ethik hat ja eine wirre Entstehungsgeschichte, sie ist quasi eine Sammlung von halbgaren, teilweise zufällig entdeckten Regeln, die sich nur als günstig erwiesen haben. Keinesfalls lagen diesem Vorgang so klare Vorstellungen vom Zweck der Ethik zugrunde, wie wir sie hier entwickelt haben. Könnte nicht allein dieser Fortschritt, die Einsicht darüber, was Ethik eigentlich ist, ein ganz anderes Herangehen ermöglichen? Mehr noch: Ist eine detaillierte Ethik überhaupt nötig? Muss die kulturelle Ethik ein Wust von kleinen, speziellen Regeln sein? Genügt nicht für den Einzelnen das Verständnis der Zusammenhänge im Verbund mit der abstrakten Forderung, sich dementsprechend zu verhalten?

So eine universelle Ethik hätte große Vorteile. Nicht nur, dass sie leichter zu merken wäre; man hätte auch auf jede neue ethische Herausforderung, die der Fortschritt mit sich bringt, schnell die richtige Antwort, statt ihr zunächst hilflos gegenüberzustehen. Der Einzelne könnte alle Fragen, auch völlig neue, mit etwas Nachdenken selbst richtig beantworten. Außerdem wäre man den ganzen Unsinn los, der sich möglicherweise in der Ethik angesammelt hat und unser Leben unnötig einschränkt.

Wie sollte eine solche universelle Ethik sinnvollerweise formuliert sein?

Angenommen, sie würde dem Einzelnen zwar in abstrakter Weise, aber doch ohne Umweg das richtige Verhalten nennen. Dann wäre diese Aussage die einzige Regel - und die einzigen Wirkungen im Dienste der Gemeinschaft wären die Anwendungs- und die Aussichtswirkung dieser einen Regel. Wir hatten schon zu Beginn des Kapitels festgestellt, dass Anwendungs- und Aussichtswirkung einer Regel meistens im Konflikt stehen. Eine Ein-Regel-Ethik wäre demnach mit einem monströsen Kompromiss belastet, und es erscheint deshalb sehr unwahrscheinlich, dass sie leistungsfähiger sein könnte als eine Zusammenstellung mehrerer Regeln, von denen einige mit einer günstigen Anwendungswirkung und andere mit einer günstigen Aussichtswirkung zum Erfolg beitragen.

So hätte es eine Ein-Regel-Ethik vergleichsweise einfach, eine gute Anwendungswirkung zu haben. Sie müsste den Akteur nur die direkten Folgen seines Tuns berücksichtigen lassen. Hinsichtlich der Aussichtswirkung gäbe es dann aber keinerlei Gestaltungsspielraum mehr. Sie wäre, wie sie wäre - vermutlich einigermaßen fürchterlich.

Der erfolgversprechendere Ansatz ist, dass die Aussage der universellen Ethik nicht die eigentliche Verhaltensregel darstellt, sondern nur eine Formel ist, mit deren Hilfe der Akteur die Regeln seines Verhaltens aufstellen kann. Unter der Annahme, dass die Formel von den meisten beachtet wird, und dass die meisten damit auch zu sehr ähnlichen Regeln gelangen, können diese Regeln als allgemein bekannt gelten und haben somit eine eigene Aussichtswirkung. Das Bedenken dieser Aussichtswirkung kann (und sollte) Teil der Formel sein.

Bevor wir diese Überlegung fortsetzen, um eine universelle Ethik zu formulieren, sei ein kurzer Blick auf die Philosophen und ihre Theorien geworfen. Die Idee der universellen Ethik ist ja nicht neu, und zumindest zwei Vorschläge sind recht bekannt. Was ist von ihnen zu halten?

Zum einen gibt es da die sogenannte Goldene Regel: "Verhalte Dich gegenüber anderen so, wie Du wünschst, dass sie sich Dir gegenüber verhalten." Die Goldene Regel ist ein Paradebeispiel für das Problem einer Ein-Regel-Ethik. Sie zielt einzig auf eine vorteilhafte Anwendungswirkung und verschenkt damit das gesamte Potenzial für günstige Aussichtswirkungen. So wäre zum Beispiel jede Strafe mit dieser Richtlinie falsch, denn wer will schon bestraft werden.

Daneben enthält das Konzept noch eine zweite Schwäche, so dass es selbst mit folgender Nachbesserung nicht zu retten ist: "Verhalte Dich gemäß der Regeln, deren allgemeine Geltung für Deine persönlichen Vorlieben optimal wäre." Dieser Grundsatz wäre sinnvoll, wenn alle Menschen die gleichen Vorlieben hätten. So ist es aber nun mal nicht, und jeder Unterschied bei den Vorlieben mündet in eine falsche Verhaltensvorgabe. Am leichtesten ist der Fehler zu erkennen am Beispiel von Minderheiten mit abweichenden Vorlieben. Sie würden einerseits zu unsinnigem Verhalten aufgefordert. Wer zum Beispiel andere Menschen gern nackt sieht, der müsste gemäß der Maxime handeln: Entkleide Dich in der Öffentlichkeit! Andererseits wären Minderheiten selbst stark benachteiligt, denn auf ungewöhnliche Vorlieben würden die meisten Mitmenschen keine Rücksicht nehmen.

Der zweite bekannte Vorschlag beruht auf folgendem Grundsatz: "Verhalte Dich so, dass Du das insgesamt größte Glück unter den Menschen bewirkst." Es ist das Konzept, das häufig als der eigentliche Utilitarismus angesehen wird. Auch hier handelt es sich um eine Ein-Regel-Ethik mit Tunnelblick auf die Anwendungswirkung.

Wieder ist eine Nachbesserung möglich, der Regel-Utilitarismus: "Verhalte Dich gemäß der Regeln, deren allgemeine Geltung das insgesamt größte Glück unter den Menschen zur Folge hätte." Aber auch dieser Grundsatz hat noch einen beträchtlichen Schwachpunkt, den vagen Begriff Glück nämlich. Die Bewertung des Konzepts hängt von seiner Interpretation ab. Mit jeder konkreten Vorstellung über "Glück", zum Beispiel als Gefühl, wäre diese Ethik keine Empfehlung für die Gemeinschaft, sondern eine Vorschrift - und damit logisch nicht zu begründen. "Glück" dürfte also nur als eine ganz abstrakte Größe aufgefasst werden, über die nichts festgelegt ist, außer dass sie das Ziel des menschlichen Strebens ist, und zwar von Mensch zu Mensch verschieden.

Die universelle Ethik, die sich aus unseren Überlegungen ergibt, lautet: Erkenne die Regeln, mit denen den individuellen Vorlieben aller Mitglieder der Gemeinschaft optimal gedient ist, und verhalte Dich ihnen gemäß.

Im Prinzip sind damit die Ziele dieses Abschnitts erreicht. Diese Ethik ist ein intelligenter Neuanfang. Sie ignoriert Überlieferung und ethische Intuition.

Die Frage ist aber: Ist sie auch praktikabel? Die Hoffnung, einfach zu sein, erfüllt sie keinesfalls. Von der Leichtigkeit etwa der Goldenen Regel ist sie unendlich weit entfernt. Sie lastet dem Handelnden monströse Aufgaben auf. So hatten wir am Anfang des Kapitels schon festgestellt, dass die Aussichtswirkung von Regeln auf der menschlichen Intelligenz beruht und deshalb komplex und schwer vorhersagbar ist. Außerdem unterliegt sie einer evolutionären Weiterentwicklung, was eine Planung praktisch unmöglich macht. Die Überlegungen müssten sich massiv auf Erfahrung stützen, also auf die Geschichte und darauf, was sie über bestimmte Regeln und ihre Wirkung zu berichten weiß. Das ist aber keine Aufgabe, die man irgendwie nebenbei erledigen kann; der Einzelne würde sich in vielen Fragen auf das Prinzip der kompetenteren Quelle verlassen müssen. Wir sind also schon wieder bei einer Sammlung von Regeln angelangt, die von Experten vorgegeben werden.

Zudem würden sich die neu entwickelten Regeln, wenn sie vor allem auf Erfahrung beruhen, von den alten in vielen Fällen gar nicht sehr unterscheiden, denn die tun das im Wesentlichen auch. Wenn sich unsere Vorfahren für bestimmte Varianten und gegen bestimmte andere entschieden, dann hatten sie dafür häufig gute Gründe. Ein Teil der kollektiven Erfahrung wird uns mitgeteilt in Form der kulturellen Ethik. Es wäre also übertrieben, alles Überlieferte direkt zu verwerfen; ein Prüfen und Erweitern ist bei gleichem Ergebnis das einfachere und weniger riskante Projekt.

Das ist nun aber kein wirklich neues Herangehen mehr. Eher laufen die Überlegungen darauf hinaus, die Art, wie heute in der aufgeklärten Welt mit der kulturellen Ethik umgegangen wird, in mehrfacher Hinsicht beizubehalten:

  • Eine Diskussion über ethische Fragen ist absolut geboten. Sie kann dazu führen, dass Regeln verändert, dass neue Regeln eingeführt oder dass alte abgeschafft werden.
  • Trotzdem ist es empfehlenswert, dass sich der Einzelne in den meisten Fällen gemäß der vorgegebenen Regeln verhält; auch dann, wenn er ihre Vorteilhaftigkeit nicht versteht. Daneben steht es jedem frei, selbst zum Experten zu werden und sich an der Diskussion zu beteiligen.

Ein Zweifel an den Gebräuchen bleibt dann aber doch. Nämlich hinsichtlich der Frage, wer als ein "Ethikexperte" gelten darf. Nach unseren Überlegungen ist das nicht etwa einer, der sich selbst dazu ernennt, auch wenn das mancher Sittenwächter gerne so hätte. Als Experte für eine bestimmte ethische Frage sollte vielmehr der gelten, der die Wirkung verschiedener Konzepte empirisch untersucht hat, oder der ein vertrauenswürdiges Modell beherrscht, mit dem er sie vorhersagen kann.

 

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