Kapitel 2: Ethik • Abschnitte 1 bis 3 Ethik |
Regeln und ihre WirkungAlso gut: Was wissen wir? Ethik besteht aus irgendeiner Art von Verhaltensvorgaben, soviel sollte man feststellen können. Hinsichtlich deren Natur ist an dieser Stelle nichts bekannt. Die Regeln könnten also zum Beispiel sehr konkret sein und sich auf bestimmte Gegenstände oder Verhaltensweisen beziehen. Umgekehrt wären aber auch ganz abstrakte Vorgaben denkbar; im Extremfall könnte die ganze Ethik aus nur einer einzigen Regel bestehen. Aber wie auch immer, letztendlich besteht die Ethik aus Regeln. Es hat also Sinn, wenn wir damit beginnen, die prinzipielle Wirkungsweise von Regeln zu untersuchen. Zunächst gibt es da eine Wirkung, die man einer Regel im Allgemeinen sofort ansieht, denn sie wird durch die Regel selbst gefordert. Es ist die Wirkung, die auftritt, wann immer die Regel Anwendung findet. Nennen wir diese Wirkung deshalb die Anwendungswirkung. Beispiele:
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Wenn nämlich allgemein bekannt ist, dass eine bestimmte Regel besteht, dann erlaubt das dem Einzelnen bedingte Vorhersagen über das Verhalten der anderen. Seine Entscheidungen sind nun davon beeinflusst, dass unter bestimmten Umständen eine bestimmte Reaktion in Aussicht steht, nämlich sobald diese Reaktion die eigenen Interessen berührt. Auch diese Wirkung, sie sei die Aussichtswirkung genannt, gibt es bei fast jeder Regel:
Von der Aussichtswirkung ist, im Gegensatz zur Anwendungswirkung, in der Formulierung der Regel keine Rede. Trotzdem sieht man vielen Regeln sofort an, worin ihre Aussichtswirkung besteht - vor allem dann, wenn diese Aussichtswirkung diejenige ist, um deretwillen die Regel überhaupt besteht. Ein Beispiel: Die Mitglieder einer Spielrunde einigen sich auf die Regel, dass jeder, den man beim Schummeln erwischt, aus der Runde ausgeschlossen wird. Die Regel zielt sicherlich nicht darauf, möglichst viele Mitglieder zu verlieren, obwohl der Verlust von Mitgliedern gerade die Anwendungswirkung der Regel ist. Das Motiv ist hier aber die Aussichtswirkung: Es geht darum, Schummeleien entgegenzuwirken - und dieser Absicht dient die Regel, obwohl sie vom Entgegenwirken gar nichts sagt. Vielleicht geschieht es sogar, dass niemals ein Mitglied schummelt und folglich niemals ein Mitglied aus der Runde ausgeschlossen wird. Die Regel hätte dann eine starke Wirkung gezeigt, in der ihre eigene Nichtanwendung enthalten wäre. Die Aussichtswirkung besteht permanent, selbst wenn der Anwendungsfall nie eintritt. Es genügt die bloße Existenz der Regel, sobald für alle Teilnehmer glaubhaft ist, dass sie strenge Anwendung findet. Viele Regeln, vor allem Gesetze, zielen so klar auf eine bestimmte Aussichtswirkung, dass man dazu neigt, diese Aussichtswirkung als die eigentliche Regel aufzufassen. Man spricht zum Beispiel abstrakt von "Verboten", so als ob jede solche Regel darin bestünde, dass das Verbotene nicht getan werden sollte. Tatsächlich erfreuen sich direkte Verbote aber selten großen Respekts, deshalb funktionieren die meisten Verbote über die Aussichtswirkung: Das unerwünschte Verhalten wird bestraft, und das ist die eigentliche Regel - ob es obendrein noch formal "verboten" ist, macht für die Wirkung keinen großen Unterschied. So stellt zum Beispiel das deutsche Strafgesetzbuch nicht die Regel auf, dass Menschen nicht morden sollen, sondern es regelt im Falle des Mordes nur die Reaktion der Justiz, und das genügt. Trotzdem wird die Regel als Verbot des Mordes betrachtet. Solche Vereinfachungen erleichtern sicher den Alltag, aber für das Verständnis von Regeln, um das es hier geht, sind sie hinderlich. Oft besteht die Aussichtswirkung einer Regel hauptsächlich darin, dass ein Verhalten durch Verknüpfung mit Lohn oder Strafe gefördert oder unterdrückt wird. Aber die Folgen können über das auch weit hinausgehen. Die Aussichtswirkung einer Regel besteht ja permanent, unabhängig von der Anwendung der Regel, und wird deshalb, sobald sie erkennbar geworden ist, permanent erwartet. Und welche allgemeine Verhaltensänderung auch immer das zur Folge hat: Sie wird gleichfalls irgendwann erwartet, es tritt ein Ketteneffekt ein. Ein Beispiel aus dem Straßenverkehr. Dort gibt es das Konstrukt der Haupt- und Nebenstraßen, das im Wesentlichen durch folgende Regel definiert ist:
Die Hauptwirkung dieser Regel ist nicht, dass bei ein paar Unfällen die Frage der Reparatur schnell geklärt ist (Anwendungswirkung). Die Hauptwirkung ist auch nicht, dass die Fahrer, die von den Nebenstraßen kommen, vorsichtig und selbstlos werden (Aussichtswirkung). Nein, die dramatische Wirkung ist: Unzählige Autofahrer kommen schneller voran. Der Fahrer auf der Hauptstraße darf damit rechnen, freie Fahrt zu haben. Er weiß, dass hohe Geschwindigkeit für ihn kein großes Risiko bedeutet, denn er kennt das Verhalten der anderen Teilnehmer. Der flüssige Verkehr auf der Hauptstraße ist die Wirkung der Erwartung der Aussichtswirkung. In diesem Fall ist die Folgewirkung der Aussichtswirkung erwünscht; sie ist das Motiv für die Regel. Und wir erkennen einen ersten Grund dafür, warum Regeln vorteilhaft sein können: Fremdes Verhalten wird durch sie berechenbar und damit das eigene planbar. Planbarkeit für das Individuum ist eine Grundvoraussetzung für intelligentes Verhalten und gehört deshalb zu den wichtigsten Effekten von Regeln. Während sich die Anwendungswirkung direkt an der Regel ablesen lässt, sind die Aussichtswirkung und erst recht ihre Folgen nur unsicher vorhersagbar. Diese Wirkungen bestehen aus menschlichem Verhalten auf der Basis von Aussichten und Erwartungen. Für eine sichere Vorhersage müsste die Intelligenz des Theoretikers die der Akteure übersteigen, aber das Gegenteil ist der Fall. Die Akteure entscheiden im kleinen Rahmen, sie sind motivierter, sie sind viele, und sie haben Zeit zum Experimentieren. Die geschicktesten Verhaltensweisen im Leben mit der Regel setzen sich durch, so dass sich die Aussichtswirkung im Laufe der Zeit verändern kann. Allein dadurch kann eine Regel irgendwann von einer guten zu einer schlechten werden. Natürlich gibt es unzählige einfache Fälle von Regeln, bei denen eine allzu komplexe Wirkung nicht zu erwarten ist. Allgemein lässt sich aber nicht davon ausgehen, dass die Wirkung von Regeln sicher vorhersagbar ist. Sicher ist erst die praktische Erfahrung. So leben die Menschen mit Regeln, denen wohl die wenigsten eine vorteilhafte Wirkung prophezeit hätten, zum Beispiel dem Privateigentum. Und sie leben andererseits nicht mit Regeln, die mit hässlichen, unerwarteten Wirkungen enttäuscht haben, zum Beispiel der Bestrafung von Alkoholkonsum. Schon nach dem ersten Abschnitt des Kapitels ist also klar, wo die große Schwierigkeit der Ethik liegen wird, falls wir sie als berechtigt erkennen: in der Komplexität. Theorie, betrieben mit dem menschlichen Verstand, wird schwerlich eine direkt anwendbare und dabei gute Ethik hervorbringen können. |
KompromisseRegeln haben also mehrere Wirkungen: eine Anwendungswirkung und eine Aussichtswirkung, sowie eventuell noch weitere Wirkungen durch die Erwartung der Aussichtswirkung. Damit ist die naheliegende Strategie, einfach alle Regeln mit guter Wirkung zu erheben und alle mit schlechter nicht, leider unbrauchbar. Eine Regel kann gleichzeitig gute und schlechte Wirkungen haben, und das ist sogar der Normalfall. Entscheidend dafür, ob eine Regel erhoben werden sollte oder nicht, muss letztendlich die Summe ihrer Wirkungen sein. Die meisten unserer Regeln, Gesetze eingeschlossen, bestehen trotz einer nachteiligen Zweitwirkung. Oder sie bestehen eben gerade nicht, weil die nachteilige Zweitwirkung allen Vorteil in den Schatten stellen würde. Ein paar Beispiele:
Im Allgemeinen wird man sich mit den unschönen Nebenwirkungen von Regeln anfreunden müssen. Nur in Einzelfällen wirken die Tricks, die eine nachteilige Zweitwirkung verschwinden lassen können:
Wir haben nun ein grundlegendes Verständnis der Wirkungsweise von Regeln gewonnen und können uns dem eigentlichen Thema zuwenden, der Ethik. |