Kapitel 1: Entscheidungen  •  Abschnitte 20 bis 21

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Unbegreifliche Freiheit

Am Ende des Kapitels soll ein kurzer Blick auf die Praxis stehen, und damit auf die besondere Beziehung, die wir Menschen zu Entscheidungen haben.

Biologische Kreaturen wie wir sind Produkte der Evolution. Jedes Organ in einem solchen Organismus hat sich für einen Zweck herausgebildet, auch das Gehirn. Es wird vom Organismus ernährt, weil es im Gegenzug zu seiner Funktion beiträgt, und zwar durch Erfüllen einer ziemlich klaren Aufgabe. Im Falle des Gehirns besteht diese angezüchtete Aufgabe darin, Entscheidungen zu treffen. Sie besteht nicht darin, sich über Vorlieben Gedanken zu machen, denn die Vorlieben sind durch den Organismus vorgegeben: Überleben und Fortpflanzen. Der einfache, vor-menschliche Verstand agiert deshalb in einem wunderbar klaren Kosmos, in dem letztendlich alles durch einen Zweck gedeckt ist, nämlich den Zweck, der dem Verstand durch seinen Organismus vorgegeben ist. Die Entscheidungen, die der einfache Verstand trifft, sind keine wirklich freien Entscheidungen, sondern sie stehen, bedingt durch Umstände, Zusammenhänge und Ziele, bereits vorher fest. Nur sind sie eben so schwer zu erkennen, dass es dazu eines Verstandes bedarf. Wenn der Gepard noch drei Meter weiter auf die Beute zu schleicht, statt gleich aus der Deckung zu springen, dann tut er das nicht, weil er sich frei dazu entschließt, sondern weil es seinen Jagderfolg und letztendlich sein Überleben wahrscheinlicher macht. Die Entscheidung ist durch Sachzwänge vorgegeben, der Verstand ermittelt sie nur. Der biologische Verstand ist also von jeher ein Diener und kein Führer.

Beim Menschen hat nun die Entwicklung des Gehirns eine gewisse Schwelle überschritten, so dass etwas Kurioses passiert ist. Der Hang zur Abstraktion hat bei ihm ein solches Maß erreicht, dass er den Zweckterror seines Organismus auf ihn selbst anwendet: Leben und Fortpflanzung, die immer wieder als ultimative Begründung für alles herhalten müssen, haben selbst gar keinen Zweck! Aus Sicht des Organismus ist das der GAU, man könnte sagen: Der Verstand ist außer Kontrolle geraten. Zugleich ist die Emanzipation vom biologischen Ursprung auch für den Verstand selbst ein Desaster, denn ohne die Vorlieben des Organismus ist er hilflos. Er ist eben nur ein Werkzeug. Mit Freiheit kann er nichts anfangen.

Und selbst, wenn unser Verstand diesbezüglich ein Einsehen hat und den Vorlieben seines Ernährers treu bleibt, verhilft ihm das nur teilweise ins biologische Muster zurück. Denn es gibt eine weitere folgenschwere menschliche Besonderheit: den technischen Fortschritt. Die eigentliche Lebenstätigkeit des Menschen ist heute extrem rationalisiert, was ihm wiederum enorme Freiheiten eröffnet.

Dem Menschen ist also die natürliche Situation abhanden gekommen, dass der Verstand in angenehmem Maße mit Aufgaben beschäftigt ist, die nicht in Frage stehen. Damit kann er in verschiedener Weise umgehen:

  • Er lebt mit dem unterbeschäftigten Verstand. Das kann er zum Beispiel tun, indem er viele Entscheidungen mittels spontaner, willkürlicher Vorlieben trifft. Eine andere Möglichkeit ist, sich einer Lebensweise anzuschließen, die viele Vorgänge detailliert regelt.
  • Er stellt den Verstand in den Dienst instinktiver Vorlieben. Ob das in hinreichende Beschäftigung mündet, hängt von der Ausprägung dieser Vorlieben ab.
  • Er wählt Aufgaben. Je größer die Aufgaben sind, umso weniger davon sind nötig, und umso leichter lässt sich vergessen, dass sie letztendlich willkürlich gewählt sind. Einige Lebensinhalte dieser Art sind ausgesprochen populär: Reichtum, Ansehen, Fortschritt, Erfolg in Wettbewerben, Hilfe für andere.

Sätze von "geregelter Lebensweise" oder "großen Aufgaben" ohne Begründung wecken Assoziationen zur Welt der Gläubigen. Tatsächlich ist hier eine Abgrenzung zur Religion nicht möglich. Wenn es in diesem Komplex aus willkürlichen Vorlieben und Religion eine bedeutsame Grenze gibt, dann nur dort, wo eine Lehre beginnt, die Welt zu beschreiben und sich so mit der Wissenschaft anzulegen.

Rein rational sind keine Entscheidungen möglich, damit muss der Verstand sich anfreunden. Tut er das nicht, dann verliert er sich im günstigeren Fall in der endlosen Suche nach Begründungen. Im ungünstigeren Fall erliegt er der Verführung durch Dogmatiker, die Vorlieben als Notwendigkeiten verkaufen und ihm so seine geliebten Sachzwänge zurückgeben. Der Preis dafür sind Unfreiheit, Einfalt und Kriege im Namen der "einzigen" wahren Notwendigkeit.

Wo ist der Sinn?

Es mangelt nicht an Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Der Mensch kann sich vergnügen, er kann willkürliche Ziele verfolgen, er kann sich überlieferten Regelwerken unterwerfen. Es braucht keine besondere Erkenntnis, um von diesen Möglichkeiten zu wissen. Wer ist es also, der über den Sinn des Lebens grübelt? Es sind nicht die, die eine der bekannten Möglichkeiten schon als Sinn ihres Lebens akzeptieren können. Es grübeln jene, denen in all diesen Möglichkeiten etwas fehlt: eine Begründung. Sie meinen die Frage nach dem Sinn des Lebens auf eine bestimmte Art. Sie wollen nicht wissen, was sie tun können, sondern was sie tun müssen. Sie auf Spaß oder Werte zu verweisen, beantwortet eine andere Frage als die, die sie stellen, und ist deshalb eine Schummelei. Die einzige ehrliche Antwort, die ihnen gegeben werden kann, ist: Einen solchen Sinn hat das Leben nicht. Was wir tun, dient keinem höheren Zweck als instinktiven und willkürlichen Vorlieben.

 

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