Kapitel 1: Entscheidungen  •  Abschnitte 13 bis 19

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Vernunft

Wir haben einen weiten Bogen geschlagen, um alle Werkzeuge der Vernunft bereitzustellen und zu erforschen: Die Logik, die Beobachtung, das Denken, das Wissen, die Wissenschaft. Die Frage ist nun, was sich mit diesem Instrumentarium bewegen lässt. Welche Entscheidungen können wir damit treffen?

Etwas zu entscheiden bedeutet, zwischen verschiedenen Varianten auszuwählen. Um das zu tun, benötigt man eine Aussage darüber, welche Variante die richtige ist; zumindest aber einen Maßstab dafür, welche besser ist als die anderen. Welches unserer vernünftigen Instrumente ist es, das diese unverzichtbare Information in die Entscheidung einbringt?

Die Beobachtung ist es nicht, denn sie sagt uns nur, was ist, aber nicht, was sein sollte. Gleiches gilt für die Wissenschaft. Unser historisches Wissen kann uns sagen, wieviele Millionen Menschen in den Weltkriegen umgekommen sind; aber dass es gut wäre, wenn sich so etwas nicht wiederholt, ist eine emotionale Bewertung und kein historischer Fakt. Unsere Gesetzmäßigkeiten können uns vorhersagen, dass das in den Teich gefallene Kind nur überleben wird, wenn wir es retten - aber sie geben keine Auskunft darüber, ob wir das auch tun sollten. Natürlich würden wir es tun, aber nicht, weil es aus der Gesetzmäßigkeit folgt, sondern weil wir es möchten, womit wir schon wieder ins Emotionale abgeglitten wären.

Also ist es am Ende die Logik, die uns die besseren von den schlechteren Varianten unterscheiden lässt? Nein, auch die Logik hilft uns hier nicht. Denn die Wichtigkeit einer Sache lässt sich logisch nicht begründen, ohne sich auf die Wichtigkeit einer anderen Sache zu berufen. Jede Begründung zöge nur ein weiteres "Warum?" nach sich. Wenn in unserem Wissen keine Aussagen über Güte oder Vorrang enthalten sind, dann kann eine Logik, die auf dieses Wissen aufsetzt, auch keine Schlussfolgerungen darüber produzieren.

Keins der Entscheidungsmittel, die wir bisher akzeptiert haben, sagt uns, worauf es ankommt. Welche Entscheidungen können wir also mit den Mitteln der Vernunft treffen? Keine. Nicht eine einzige. Eine vollständige Vernunft - in dem Sinne, dass Entscheidungen auf rein rationaler Grundlage getroffen werden - existiert nicht. Ein Leben nur auf der Basis von Vernunft zu führen, ist nicht etwa nur langweilig, wie viele glauben; es ist nicht möglich.

Man könnte das fehlende Element "Zweck" nennen oder "Sinn". Nennen wir es "Vorliebe". Dieser Begriff verspricht eine effektivere Diskussion als die anderen beiden, weil er zwei Eigenschaften des Elements nicht vergessen lässt:

  • Es ist unbegründet.
  • Es kann individuell verschieden sein.

Die Vorliebe bestimmt also die Marschrichtung. Für die rationale Vernunft ist diese Selbsteinsicht hart. Mit all ihrer Logik und Wissenschaft ist sie am Ende nicht mehr als ein Werkzeug, um Vorlieben besser bedienen zu können. Die berühmte Entscheidung zwischen Herz und Verstand gibt es nicht. Sie ist eine Entscheidung zwischen Herz und Herz mit lediglich unterschiedlich intensiver Konsultation der höheren Gehirnfunktionen.

Zudem bedeutet die Abhängigkeit zwischen Vernunft und Vorliebe, dass Vernunft nicht allgemeingültig ist. Nur an den Vorlieben kann bemessen werden, ob ein Verhalten vernünftig ist. Wenn also zwei Menschen verschiedene Vorlieben haben, dann kann für sie auch ein verschiedenes Verhalten vernünftig sein. Es gibt nicht das vernünftige Auto, die vernünftige Freizeitgestaltung, den vernünftigen Werdegang. Solche Phrasen beziehen sich bestenfalls auf die Vorlieben der Mehrheit.

Wenn Vorlieben unbegründet sind, dann entziehen sie sich auch der rationalen und somit objektiven Bewertung. Eine Vorliebe ist nicht richtig oder falsch. Sie stimmt nur mehr oder weniger mit den Vorlieben anderer Menschen überein, und vielleicht ist sie mehr oder weniger angesehen nach der jeweiligen Mode. Jede Skala, die bessere und schlechtere Vorlieben unterscheidet, kann selbst nur durch Vorliebe begründet sein. Eine objektive Qualität von Vorlieben gibt es nicht.

Allerdings heißt das nicht, dass beim Verfolgen von Vorlieben völlige Freiheit besteht. Die Vorlieben selbst stehen miteinander im Konflikt - die eine beschränkt die Freiheit beim Verfolgen der anderen. Solche Beschränkungen entstehen sowohl aus eigenen Vorlieben als auch aus denen anderer Menschen; von beidem wird noch die Rede sein. Im Extremfall kann eine Vorliebe so unglücklich sein, dass sie keinen nennenswerten Einfluss auf das Verhalten erreicht.

Außerdem bleibt trotz der Tatsache, dass eine Vorliebe selbst nicht falsch sein kann, einiges Potenzial für andere Fehler in diesem Kontext. Das beginnt damit, dass die eigenen Vorlieben oft im Voraus abgeschätzt werden müssen, was durchaus fehlerträchtig ist. Weiterhin können bei der Priorisierung von Vorlieben Fehler gemacht werden; zum Beispiel der Fehler, zugunsten aktueller Interessen andere, langfristige zu vernachlässigen. Und es gibt Faktoren, die Menschen zum Irrtum über ihre Vorlieben verleiten. Gebräuche und der vorherrschende Geschmack drängen zu bestimmten Zielen und Verhaltensweisen, während interessante Alternativen sozial unterdrückt werden oder zumindest so unüblich sind, dass sie mancher gar nicht erst in Betracht zieht. (Deshalb ist die Existenz einer gewissen Art von Philosophie berechtigt, die nicht versucht, allgemeingültiges Wissen zu gewinnen, sondern die Menschen nur anregt, sich auf ihre wahren Vorlieben oder deren wahres Gewicht zu besinnen.)

Mit dem Akzeptieren von Vorlieben ist die Entscheidungsfähigkeit endlich erreicht - woher diese Vorlieben kommen, spielt dafür eigentlich keine Rolle. Ganz uninteressant ist die Frage nach dem Ursprung der Vorlieben aber nicht. Klar ist, dass sie nicht das Ergebnis von bewussten Entscheidungen sind. Zwar lassen sich Ziele unter Angabe von Gründen festlegen und können dann in Entscheidungen die gleiche Rolle einnehmen wie Vorlieben, aber dieses Festlegen ist nicht möglich, ohne sich auf Vorlieben zu stützen, die eine solche Begründung ihrerseits nicht besitzen. Rational beschlossene Ziele können deshalb allenfalls sekundäre Vorlieben genannt werden; sie sind keine Vorlieben in unserem Sinne, und ein Mensch kann nicht ausschließlich solche sekundären Vorlieben haben.

Über primäre Vorlieben wird nie rational entschieden.

Dabei ist empirisch klar, woher eine große Gruppe dieser Vorlieben kommt. Menschen mögen es warm und trocken. Sie essen und schlafen gern. Sie wünschen sich einen hohen sozialen Rang. Sie finden Gefallen an Mitmenschen, die gesund, stark und ansonsten arttypisch erscheinen. All das sind Vorlieben, die bei unseren Vorfahren den Erfolg der eigenen Gene oder das Überleben der ganzen Art begünstigt haben. Sie sind Hinterlassenschaften der Evolution, Instinkt.

Damit ist die Gesamtheit der Vorlieben aber nicht erfasst. Ein Mensch ist zum Beispiel auch in der Lage, spontan eine Zahl zwischen 1 und 100 zu wählen, und diese Entscheidung mit uralten Überlebensinstinkten zu begründen, wäre lächerlich. Es gibt neben den instinktiven eine weitere Kategorie von primären Vorlieben. In Anlehnung an die Alltagssprache seien diese Vorlieben die "willkürlichen" genannt, ohne dass dieser Name weitergehende Behauptungen einschließen soll; etwa die, dass die Vorgänge nicht physikalisch determiniert seien.

Denken mit und entgegen der Zeit

Wir haben bisher darum gerungen, Entscheidungen überhaupt möglich zu machen. Damit haben wir uns noch kein Stück von der Praxis entfernt, denn was schon theoretisch nicht möglich ist, das ist es praktisch natürlich erst recht nicht. Logik, Wissen und Vorliebe sind bei keiner bewussten Entscheidung verzichtbar, sie sind allenfalls verborgen.

Jetzt wird es darum gehen, wie die verschiedenen Bausteine zusammenwirken, um Entscheidungen hervorzubringen. Wir bleiben bei der Theorie, d.h. uns wird interessieren, wie sie zusammenwirken müssen, damit am Ende etwas Gescheites herauskommt. Die Praxis der Entscheidungsfindung, auch der bewussten, wird damit schon alleine deshalb nicht immer übereinstimmen, weil Menschen beim Denken Fehler machen. Und selbst, wenn die Praxis der Theorie entspricht, muss das nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar sein. Teile aus der Theorie können im konkreten Fall so trivial geraten, dass sie kaum noch zu erkennen sind. Oder sie werden vom Gehirn auf der Basis von Intuition oder lebenslanger Erfahrung abgekürzt, was auch wie ein Widerspruch zur Theorie erscheinen kann.

Zu entscheiden bedeutet, zwischen verschiedenen Varianten zu wählen, genauer gesagt: Varianten in der Zukunft. Es gilt, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart und ihren Auswirkungen in der Zukunft. Das ist zunächst in beiden Richtungen vorstellbar: Man könnte sich ausmalen, was verschiedene Verhaltensweisen für Konsequenzen haben und diese an den Vorlieben messen; man könnte aber auch von den Vorlieben aus rückwärts denken, d.h. für die gewünschte Wirkung in der Zukunft das erforderliche Verhalten in der Gegenwart zu ermitteln versuchen. Theoretisch ist beides möglich, und wirklich: als Teilnehmer am Leben kann man sich erinnern, beides schon getan zu haben. Es deutet sich an, dass unter den beiden Richtungen keine klar die bessere ist, so dass man auf die andere verzichten könnte. Sehen wir uns beide genauer an.

Das Vorwärtsdenken in der Zeit ist aus logischer Sicht vergleichsweise einfach. Eine Ursache ergibt eine Anzahl von Wirkungen, die wiederum Wirkungen haben und so weiter. All diese Wirkungen verteilen sich über die Zukunft und ergeben gemeinsam eine Gesamtwirkung für eine Handlungsweise. Das ist der erste Teil des Vorwärtsdenkens, die Vorhersage. Der zweite Teil ist die eigentliche Entscheidung; sie baut auf der Vorhersage auf. Die Gesamtwirkung wird an allen Vorlieben bewertet, die entstehende Bewertung steht der Bewertung anderer Handlungsweisen gegenüber. Die Entscheidung fällt zugunsten der insgesamt erfreulichsten Alternative.

Die Schwierigkeit beim Vorwärtsdenken ist die große Anzahl der Möglichkeiten. Es gibt tausend Dinge, die man tun könnte - die meisten davon völlig absurd und weit davon entfernt, irgendeiner Vorliebe zu dienen. Diese Varianten alle durchzuspielen, wäre nicht nur dumm, es ist schlicht unmöglich. Ein reines Vorwärtsdenken ist selten machbar.

Das zeitliche Rückwärtsdenken andererseits ist schon in der Logik schwierig. Welche Ursache würde denn die gewünschte Wirkung haben? Mit bloßem Anwenden bekannter Gesetzmäßigkeiten kommt man da nicht weit. Erfolgreiches Rückwärtsdenken erfordert nicht nur Intelligenz, sondern auch Fantasie und Erfahrung. Und selbst, wenn man eine mögliche Ursache für eine Wirkung gefunden hat, kann es immer noch unentdeckte Alternativen geben, die diese Wirkung ebenfalls enthalten und dabei insgesamt besser sind. Eine Ursache hat eine eindeutige Wirkung, aber eine Wirkung hat keine eindeutige Ursache. Rückwärtsdenken ist kompliziert, und es von allen Vorlieben aus gleichzeitig tun zu wollen, wäre aussichtslos. In aller Regel geht das Rückwärtsdenken von einer einzigen Vorliebe aus, nämlich derjenigen, der gerade besonders schwierig nachzukommen zu sein scheint. Zudem ist es meistens auch nur ein begrenzter Zeitraum, auf den das Rückwärtsdenken zielt. Die meisten Vorlieben und der größte Teil der Zukunft bleiben beim Rückwärtsdenken unberücksichtigt. Deshalb ist es zwar möglich, Entscheidungen nur mit Rückwärtsdenken zu treffen, aber es ist unklug und kann zu grotesken Fehlentscheidungen führen.

Wir sehen: Weder das Vorwärts- noch das Rückwärtsdenken ist alleine geeignet, Entscheidungen zu treffen. Die beiden Richtungen stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern müssen zusammenwirken und sich ergänzen, um die Schwächen der jeweils anderen zu egalisieren. Die Rolle der eigentlichen Entscheidungsfindung muss dem Vorwärtsdenken zufallen, denn nur dabei werden erstens alle interessanten Alternativen untersucht und zweitens alle Vorlieben berücksichtigt. Das Vorwärtsdenken kann aber erst beginnen, wenn das Rückwärtsdenken auf Basis der Vorlieben die Handlungsvarianten aufgezeigt hat, für die sich eine Untersuchung überhaupt lohnt. Das Rückwärtsdenken liefert die Ideen, das Vorwärtsdenken vergleicht sie.

Das Wesen einer Begründung

Es gibt unzählige gute Entscheidungen, die ihre Qualität nicht einer korrekten Begründung verdanken. Erstens verfügt der Mensch über eine leistungsfähige Intuition. Zweitens gibt es viele Situationen, die Standardmustern folgen, so dass vereinfachte Denkweisen erfolgreich anwendbar sind. Drittens existiert so etwas wie Glück. Ein Mensch kann also sehr viele richtige Entscheidungen treffen und ihnen irgendwelche Aussagen als Begründung hinterher werfen, ohne wirklich verstanden zu haben, was eine echte, vollständige Begründung ausmacht.

Dabei ist klar, dass eine Aussage nicht beliebige Entscheidungen begründen kann, die irgendwie mit ihr zu tun haben. Aussage und Entscheidung müssen in einer bestimmten Beziehung stehen, damit eine Begründung vorliegt. Diese notwendige Beziehung erfreut sich keiner großen Bekanntheit, was immer dann deutlich wird, wenn Intuition, vereinfachte Denkweisen und Glück versagen. Es ist im Alltag keine Seltenheit, dass auf der Grundlage einer Feststellung, die völlig richtig ist, eine erkennbar falsche Entscheidung getroffen wird - einfach, weil die Feststellung keine wirkliche Begründung für die Entscheidung darstellt.

Uns ist die Beziehung, die eine Begründung ausmacht, bekannt. Die Entscheidung ist der Abschluss des Vorwärtsdenkens. Die begründende Aussage muss also ein Vergleich der erwarteten Konsequenzen mindestens zweier Handlungsvarianten sein. Und die begründete Entscheidung kann nichts anderes sein als die erfreulichste der verglichenen Varianten. Nur ein solches Paar aus Aussage und Entscheidung bildet eine Begründung. Jede andere Art von Argumentation geht am Kern der Sache vorbei und führt allenfalls aus anderen Gründen zur richtigen Entscheidung als aus dem, dass sie richtig gedacht ist.

Keinesfalls kann zum Beispiel die begründete Entscheidung in einer Variante bestehen, die im Vergleich gar nicht vorkommt. Selbst eine scheinbar alltägliche Denkweise wie "Ich sollte XYZ nicht tun, denn es schadet mir" ist falsch. Die Entscheidung fällt mit diesem Ansatz zugunsten der Variante "Nichtstun", deren Konsequenzen aber nicht abgeschätzt und verglichen wurden. Es kann richtig sein, etwas Schädliches zu tun, wenn es nämlich noch schädlicher ist, es zu unterlassen. Die intuitive Denkweise lautet demnach eher: "Ich sollte XYZ nicht tun, denn es schadet mir, während sonst kein Schaden entsteht".

Erst das Vorwärtsdenken stellt den Zusammenhang zwischen Fakten und Entscheidung her. Ohne Vorwärtsdenken gibt es keine korrekte Begründung, jedenfalls nicht im bewussten Denken. Nehmen wir ein anderes typisches Begründungsmuster: "XYZ muss unzweifelhaft getan werden, denn sonst passiert etwas sehr Unerfreuliches". Hier handelt es sich um reines Rückwärtsdenken. Das Ziel ist, ein bestimmtes Ereignis zu verhindern. Aus diesem Ziel ist die Idee des Handelns geboren; alle anderen Ziele sind in der Idee unberücksichtigt. Das Vorwärtsdenken fehlt. Eine so begründete Entscheidung kann erkennbar falsch sein, zum Beispiel wenn eine geringe Chance, das Unerfreuliche abzuwenden, zu teuer erkauft wird.

In einfachen Situationen geschieht es selten, dass Ideen als Entscheidungen missverstanden werden, denn die Leistungsfähigkeit der Intuition genügt dort, um das zu verhindern. Zum Beispiel könnte einer, der gerne mehr Geld übrig hätte, theoretisch auf die Idee kommen, unter die Brücke zu ziehen und so die Miete zu sparen. Umsetzen würde er diese Idee aber kaum, denn sie ist offensichtlicher Unsinn. Es bedarf keiner bewussten Überlegung, um das zu erkennen; das nötige Vorwärtsdenken erledigt hier die Intuition.

Anders sieht es aus, wenn die Komplexität der Lage die Intuition überfordert. Ganz schnell wird dann die Idee, die aus einer einzelnen Vorliebe wie zum Beispiel Gerechtigkeit entspringt, zum Programm. Es finden keine Überlegungen mehr statt, welche Wirkung die angestrebte Lösung insgesamt hat, wie diese Wirkung den übrigen Vorlieben gerecht wird, die man ja noch haben wird, und was die Alternativen sind.

Eine weitere Klasse falscher Begründungen findet sich im Muster "Wir müssen unserer Sache XYZ treu bleiben, sonst war alles, das wir bisher getan haben, umsonst". Meistens ist es tatsächlich vorteilhaft, einen eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen, aber nur deshalb, weil diese Variante durch die Vorarbeit gegenüber den Alternativen begünstigt ist. Sobald das Vorwärtsdenken die Variante nicht mehr als beste erkennt, ist die Situation gekippt. Dann ist klar, dass die Entscheidungen der Vergangenheit schlecht waren. Weitere Entscheidungen sind wieder mit Blick auf die Zukunft zu treffen; alles andere ist nachrangig und immer nachrangig gewesen. Wenn ein Handeln in der Vergangenheit den einzigen Nutzen hatte, eine Variante, die nun als schlecht erkennbar ist, etwas weniger schlecht zu machen, dann war dieses Handeln tatsächlich umsonst. Mit Konsequenz könnte es vielleicht gelingen, den Fehler zu vernebeln, aber am Ende hätte man eine andere als die bestmögliche Zukunft herbeigeführt.

Ein sehr einfaches Beispiel aus dem Alltag: Ein Kinobesucher sieht einen Film, den er nicht mag, trotzdem bis zum Ende an. Er hat ja dafür bezahlt! Er bleibt konsequent, was seinen Fehler weniger offensichtlich sein lässt. Aber seine Logik ist falsch, und mit ihr die Entscheidung, in die sie mündet. Die gewählte Alternative hat keinen Vorteil. Das Eintrittsgeld ist in jedem Fall ausgegeben, die erste falsche Entscheidung nicht rückgängig zu machen. Nun geht es um die zweite, und mit dem Verlassen der Veranstaltung könnte er etwas Lebenszeit erfreulicher gestalten.

Oft ist es schon ein Teil des Rückwärtsdenkens, Varianten zu vergleichen, so dass es vielleicht manchmal überflüssig erscheint, Ähnliches nochmal zu tun. Das Schwanken zwischen Träumen ist aber kein Vorwärtsdenken und ersetzt es nicht. An extremen Beispielen wird das schnell deutlich. So ist es für die Lebensplanung der meisten Menschen bedeutungslos, ob sie lieber ein Rockstar oder Formel-1-Weltmeister wären. Vorwärtsdenken beginnt bei realen Handlungsalternativen.

Kontrolle der Vorliebe

Damit das Denken zu Entscheidungen führen kann, die den Vorlieben gerecht werden, müssen natürlich die Vorlieben in das Denken einfließen. Das beginnt schon beim Wissen; es bezieht sich zum Teil auf Vorlieben:

  • Wissen über die Vorlieben selbst: Eine bestimmte Person hat eine bestimmte Vorliebe. (Herausragend wichtig dabei natürlich das Wissen über die eigenen Vorlieben.)
  • Wissen über Zusammenhänge hinsichtlich Vorlieben, zum Beispiel: Falls eine bestimmte Vorliebe besteht, dann entstehen daraus bestimmte Empfehlungen.
  • Auch die Ethik ist ein Wissen, das mit Vorlieben zu tun hat, wie wir im zweiten Kapitel sehen werden.

Oft muss solches auf Vorlieben bezogenes Wissen selbst erst erkannt werden, und in diesen Denkvorgängen, die ja noch nicht direkt zu Entscheidungen führen, spielen Vorlieben zwangsläufig eine Rolle.

Auf das Wissen baut dann die Entscheidungsfindung auf, und auch dort gehen die Vorlieben wieder ein. Wir haben gesehen, dass das sinnvollerweise auf zwei Arten geschieht:

  • Die Vorlieben sind der Ausgangspunkt des Rückwärtsdenkens, also des Findens von Ideen.
  • Die Vorlieben sind der Maßstab für die Auswahl der besten Variante im Anschluss an die Vorhersagen des Vorwärtsdenkens.

Kurz: Unser Denken ist massiv mit Vorlieben verbunden.

Eine Grenze wird aber von keinem der erwähnten Bestandteile des Denkens überschritten: Unter keinen Umständen wird die Vorliebe selbst, formuliert als Aussage, zum Wissen oder zur Vorhersage. Ebenso wenig werden Vorlieben herangezogen, um zu entscheiden, welches Wissen oder welche Vorhersage als faktisch richtig anzusehen ist. Solche Schlüsse wären schlicht logisch falsch, die aus ihnen hervorgehenden Informationen unzuverlässig und die darauf beruhenden Entscheidungen zweifelhaft. So können etwa auf der Vorliebe, reich zu sein, durchaus zweckmäßige Überlegungen beruhen, zum Beispiel Pläne. Aber die Schlussfolgerung, tatsächlich reich zu sein, wäre natürlich Unsinn, und die resultierende Entscheidung, direkt den teuren Sportwagen zu bestellen, keine gute.

Für viele Gedanken hat der Wunsch also Vater zu sein, während es ihm für viele andere untersagt bleiben muss. Diese Unterscheidung ist schwierig genug, um tausendfach zu misslingen. Natürlich, die grobe Richtschnur ist klar. Was gewesen ist, was unter bestimmten Bedingungen eintreten wird, und welche Gesetzmäßigkeiten in unserer Welt bestehen, richtet sich nicht danach, wie wir's gerne hätten. Was immer wir wollen: Wir können es nur durch unsere Entscheidungen herbeiführen, nicht durch ein Verbiegen des Wissens. Praktisch werden aber nur die einfachsten Muster von Verstößen gegen dieses Prinzip leidlich zuverlässig bemerkt. Der Alltag ist von Wunschdenken durchzogen, und die offensichtlichen Fälle sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt niemanden, der sich nicht hin und wieder dieses Fehlers schuldig macht.

Insbesondere ist es natürlich Wunschdenken, anhand von Vorlieben zwischen richtigen und falschen Informationen zu unterscheiden. Trotzdem wird von dieser Methode intensiv Gebrauch gemacht - sicherlich auch begünstigt dadurch, dass man sich ihrer nicht unbedingt bewusst ist. Das Angenehme ist im Ringen um die Meinung des Menschen einfach mehr oder weniger bevorteilt. Es braucht keine große Komplexität, um diese Art von Denken zu kaschieren und so die resultierenden Meinungen salonfähig zu machen. Man denke nur an all die Verwirrten, die glauben, mit einem "Ja aber: wollen wir denn das?!" an Diskussionen über Gesetzmäßigkeiten teilnehmen zu können. Die Zuneigung zum Erfreulichen zieht sich bis in die grundlegendsten Anschauungen, und nicht wenige einflussreiche Ideologien haben ihre Anhänger mit angenehmen Pseudo-Wahrheiten verführt und berauscht. Sei es, dass sie ihren eigenen Tod überleben. Sei es, dass sie einer überlegenen Herrenrasse angehören. Sei es, dass sie daran teilhaben, wie mit einem einzigen gewaltigen Projekt alle großen Probleme der Menschheit gelöst werden.

Um Wunschdenken zu vermeiden, genügt es nicht, sich der Gefahr bewusst zu sein; einfach, weil es sich nicht generell um einen billigen Fehler handelt. In den schwierigeren Fällen hilft nur eine sehr klare und disziplinierte Denkweise, die Fakten, Gesetzmäßigkeiten, Wünsche und Ideen sauber trennt. (Womit wir im Übrigen ein Argument für die Art zu denken gefunden hätten, um die es in diesem Kapitel geht.)

Wenn wir abschließend diese Überlegungen mit der allgemeinen Auffassung vergleichen, dann finden wir zunächst einen Einklang: Wunschdenken ist tatsächlich verpönt. Dann aber wird es erstaunlich, denn gleichzeitig wird Optimismus geschätzt, obwohl es sich im Kern um dasselbe Phänomen handelt. Wie kann das sein?

Zunächst einmal sind viele praktische Entscheidungen gar nicht von der Art, wie wir sie hier untersucht haben. Sie sind von Intuitionen und Gefühlen bestimmt, und vielleicht ist unrealistische Zuversicht in dieser anderen Welt des Entscheidens tatsächlich etwas, das den Erfolg begünstigt.

Und auch bei bewussten Entscheidungen wird in der Praxis nicht immer so perfekt kalkuliert werden können, wie wir es unterstellt haben. Wir haben Theorie betrieben und uns damit vom realen Menschen und seinen Möglichkeiten ein ganzes Stück entfernt. Menschen begehen Fehler beim Denken, und manche davon können durch Zuversicht kompensiert werden. Zum Beispiel stimmt es nicht, dass ein Vorhaben mit geringen Erfolgsaussichten bei nüchterner Betrachtung zwangsläufig aufgegeben werden muss - nicht dann, wenn die Alternative zu den geringen Aussichten gar keine Aussichten sind. Der Optimist würde die richtige Entscheidung trotz des falschen Vorwärtsdenkens treffen. Menschen sind Wesen mit unvollkommenem Denken und eingeschränkter Erkenntnis. Optimismus, so falsch er theoretisch ist, könnte eine brauchbare Strategie sein, um komplizierte Fehler auf billige Art zu vermeiden. Es ist denkbar, dass ein gewisses Maß an Optimismus einem typischen Menschen (und auch einer Gemeinschaft aus solchen) mehr nützt als schadet.

Eine Verbindung von Teilen

Das rationale Denken verknüpft Wissen und Vorlieben, um Entscheidungen hervorzubringen. Keine dieser drei Komponenten ist bei einer bewussten Entscheidung überflüssig. Jede kann das Ergebnis der Entscheidung ändern - was auch bedeutet: die Entscheidung ist nicht durch die jeweils anderen Komponenten unausweichlich vorherbestimmt. Keine von ihnen ist bereits die Entscheidung. Machen wir uns im Einzelnen klar, was das bedeutet.

Erstens: Das rationale Denken ist nicht die Entscheidung; kann es nicht sein. Die Konsequenzen kennen wir.

Zweitens: Das Wissen ist nicht die Entscheidung. Man erlebt gelegentlich, dass sachlich richtiges Wissen abgelehnt wird, weil der Glaube besteht, es würde unausweichlich in falsche Entscheidungen münden. Aber zwischen Wissen und Entscheidung steht das Denken. Wenn bestimmte richtige Informationen zu bestimmten falschen Entscheidungen führen, dann sollte entweder dieser Umstand zukünftig als zusätzliche Information berücksichtigt oder aber der Denkvorgang verbessert werden. Auf keinen Fall geboten ist ein Verfälschen des Wissens. Auch scheint bei manchen die Vorstellung zu bestehen, Wissen habe eine Art Charakter, der sich zwangsläufig irgendwie im Charakter der Entscheidung widerspiegele. Aber der Verarbeitungsprozess, der beide voneinander trennt, kann beliebig komplex sein. Eine Tatsache wie zum Beispiel die, dass ein Mensch mit einer schweren geistigen Behinderung enormen Aufwand für die Gemeinschaft verursacht, ohne eine angemessene Gegenleistung zu erbringen, ist weit davon entfernt, irgendeine Entscheidung vorwegzunehmen.

Handlungen werden gern daran gemessen, wie "menschlich" sie sind, und dieser Maßstab überträgt sich leicht auf die Faktoren, aus denen die Entscheidungen hervorgehen, einschließlich des Wissens. Aber Wissen ist eben nicht menschlich oder unmenschlich, es ist richtig oder falsch (in der Bedeutung, die diese Wörter haben können). Wissen kann Vorliebe nur enthalten in Form kühler Information über Vorliebe, sonst ist es Wunschdenken. Der Vorwurf, eine Analyse sei zu kalt, ist absurd. Nicht das Wissen ist es, das einer Entscheidung die Wärme gibt, sondern die Vorliebe. Warmherzige Entscheidungen zu treffen auf der Grundlage von eiskaltem Wissen ist kein Widerspruch, sondern die einzige vernünftige Möglichkeit dazu.

Drittens: Die Vorliebe ist nicht die Entscheidung. Das Verhältnis ist eine Abhängigkeit, keine Identität. Ein Verhalten, das direkt die Vorlieben abbildet, ist schon deshalb nicht allgemein möglich, weil diese Vorlieben untereinander im Widerspruch stehen. So kann eine Entscheidung einer Vorliebe sogar direkt zuwiderlaufen, nämlich wenn eine andere, wichtigere Vorliebe das so gebietet. Ein typisches Beispiel dafür wäre die Vorliebe, morgens weiter zu schlafen, statt aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Außerdem sind Vorlieben oft relativ abstrakt, etwa Vorlieben wie "Ich möchte ein guter Mensch sein" oder "Ich möchte ein möglichst erfülltes Leben haben" oder "Ich möchte ein möglichst angesehenes Mitglied der Gemeinschaft sein". Zwischen einer solchen Vorliebe und den zahlreichen resultierenden Entscheidungen steht ein umfangreicher Denkprozess, dessen Ergebnis auch vom Wissen der Person abhängt, zum Beispiel über Naturgesetze und Verhaltensnormen. Die Vorstellung, dass allein die Vorliebe die Entscheidung bestimmt, ist falsch.

Die Gefahr, Entscheidung und Vorliebe zu verwechseln, besteht besonders dann, wenn man sich auf den unglücklichen Begriff "Wille" oder "Wollen" einlässt, denn dieser kann sowohl für das eine als auch für das andere stehen, und so natürlich auch für beides gleichzeitig. Unsere Aussage, dass eine primäre Vorliebe nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung ist, degeneriert damit zum Schwachsinn "Ich kann nicht wollen, was ich will". Die Folge sind kuriose Fehlschlüsse wie der, Wissen, Verhaltensnormen und rationales Denken seien samt und sonders belanglos.

Relevanz von Wissen

Wissen ist eine Grundlage von Entscheidungen. Präziseres oder umfangreicheres Wissen ist besseres Wissen. Je besser das Wissen ist, umso besser sind tendenziell die Entscheidungen, die auf ihm gründen - gemessen natürlich an den Vorlieben, denen diese Entscheidungen dienen sollen. Das ist keine bloße Spekulation, die Erfahrung bestätigt es. Die Annahme, Blitze seien elektrische Entladungen, lässt den Menschen einen Blitzableiter an sein Haus montieren. Die Annahme, es handele sich um Gottes Zorn, lässt ihn beten und den Blitz ins Haus schlagen. Die Korrelation ist umso stärker, je bewusster und intelligenter Entscheidungen getroffen werden. Der Zusammenhang zwischen der Qualität des Wissens und der Qualität der Entscheidungen ist der Antrieb für die Suche nach besserem Wissen.

Entscheidungen bilden das Motiv und die Existenzberechtigung des Wissens. Wenn nun eine Aussage bei keiner einzigen Entscheidung einen Unterschied ausmacht, weil keine einzige Entscheidung bei Unterstellung der Gültigkeit anders getroffen wird als bei Unterstellung der Ungültigkeit, dann ist diese Aussage irrelevant - egal, wie wichtigtuerisch sie daherkommt. Aus Sicht der Entscheidungsfindung ist sie kein Wissen.

Die Frage ist, was die theoretische Forderung nach Relevanz von Wissen praktisch bedeutet, zum Beispiel für die Forschung. Kann sie ein Kriterium dafür sein, welche Untersuchungen richtig und welche unsinnig sind? Sollte derjenige, der eine Überlegung anstellt, auch gleich eine praktische Entscheidung benennen müssen, für die sie relevant ist?

Eine solche Regel würde voraussetzen, dass Überlegungen ihre Relevanz immer anzusehen ist, sonst könnte sie fürchterlichen Schaden anrichten. Genau diese völlige Sichtbarkeit der Relevanz ist aber nicht gegeben. Dass eine Entscheidung existiert, für die eine Untersuchung relevant ist, bedeutet eben noch lange nicht, dass sie für den, der diese anstellt, einfach oder überhaupt zu erkennen ist. Sie kann von ihm fachlich und zeitlich weit entfernt sein, wie die Geschichte zeigt. So manche Betrachtung, die zu ihrer Zeit als gänzlich akademisch angesehen wurde, fand viele Generationen später plötzlich eine Anwendung. So sind zum Beispiel mathematische Sätze über Primzahlen für Jahrhunderte nicht mehr gewesen als ein schöngeistiges Hobby; heute bilden sie die Grundlage der digitalen Verschlüsselung.

Gerade für diejenigen Arten von Erkenntnis, aus denen die Wissenschaft besteht, ist der Nachweis der Irrelevanz nicht zu bewerkstelligen. Gesetzmäßigkeiten ermöglichen Vorhersagen, und Vorhersagen sind die Grundlage von Entscheidungen. Es ist nicht möglich, für alle Bereiche und alle Zeiten auszuschließen, dass eine bestimmte Vorhersagefähigkeit eine Vorhersage verbessern kann, die bei einer Entscheidung wichtig ist. Historische Fakten wiederum können helfen, Gesetzmäßigkeiten überhaupt erst zu erkennen, und auch das wieder in einem fremden Fach oder einer anderen Zeit. Es bleibt also dabei, dass die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis um ihrer selbst willen, wie sie in Teilen der Forschung betrieben wird, berechtigt ist. Entscheidungsrelevanz ist dabei vielleicht eine Hoffnung, aber kein brauchbares Kriterium.

Götter

Manche Fragen erscheinen sehr einfach. Zum Beispiel diese: Taugen Pilze als Nahrungsmittel? Es sind nur wenige Wörter, und man könnte eine ebenso einfache Antwort erwarten. Doch die Sachlage lässt sie nicht zu. Die Aussagen "Pilze sind essbar" und "Pilze sind giftig" können beide nicht getroffen werden, denn beide sind jeweils für einen Teil der Pilze falsch. Eine pauschale und dabei klare Antwort ist unmöglich.

Ein Mensch von schlichter Denkweise könnte diese Situation nun so deuten, dass es sich bei der Essbarkeit von Pilzen um eine reine Glaubensfrage handelt, und dass er deshalb seinen Favoriten, den grünen Knollenblätterpilz, ebensogut für essbar halten kann. Natürlich ist diese Schlussfolgerung Unsinn, denn das Problem ist ja nicht, dass man nichts weiß, sondern dass die Kategorie "Pilz" zu heterogen ist für eine pauschale Aussage. Die Essbarkeit ist sehr wohl feststellbar, sobald man sich nur festlegt, um welchen Pilz es gehen soll.

In einem Text, der die Existenz eines Gottes nicht als Teil des Wissens sieht, weder als Glaubensgrundsatz noch als begründete Vermutung, kann Gott im Rahmen der tragenden Gedanken keine Diskussion zuteil werden. Taucht er doch auf, dann nur am Rand; als Gegenstand von Bemerkungen, die das eigentliche Thema nicht weiterführen und bei keinen anderen Überlegungen dienlich sind als eben solchen über Gott. Für so eine Abschweifung ist dies ein guter Zeitpunkt, nachdem von Wissen und von Kritik die Rede war, von Relevanz und von Sparsamkeit.

Versteht man unter "Gott" alles, das irgendein Erdenbürger mit dem Begriff verbindet, dann entsteht eine Kategorie, die noch viel bunter ist als die der Pilze. In Bezug auf diese Kategorie sind es nicht einzelne Fragen, die sich einer pauschalen Antwort verwehren, sondern praktisch alle. Eine Diskussion dieser Kategorie als Ganzes ist schlicht sinnlos. Für jedes Argument findet sich eine Vorstellung von Gott, auf die es nicht zutrifft. Aus Sicht der Wissenschaft lässt sich dazu allenfalls feststellen, dass die abstrakte Idee "Gott" unwissenschaftlich ist, weil durch schiere Diffusität vor Kritik geschützt.

Dabei wollen wir es aber nicht bewenden lassen - auch deshalb nicht, weil ein solcher Schlusspunkt wieder der Boden für falsche Fazits wäre. Der Glauben an Gott steht nicht einfach frei. Machen wir uns besser die Mühe, zumindest ein paar wenige der typischen Vorstellungen von Gott zu untersuchen.

Erinnern wir uns zunächst daran, dass es für eine Theorie nicht genügt, unwiderlegt zu sein, um als Wissen zu gelten. Dafür muss sie zusätzlich

  • kritisierbar sein;
  • falls es sich um einen historischen Fakt handelt: unter den konkurrierenden Theorien die wahrscheinlichste sein;
  • falls es sich um eine Gesetzmäßigkeit handelt: unter den besten Theorien die sparsamste sein. (Und eine Theorie wird nicht dadurch sparsam, dass man sie in eine Schublade mit einem kurzen Namen legen kann.)

Als erster der Götter sei derjenige betrachtet, der in der bekannten Welt nur ein stiller Beobachter ist und in einem obskuren Jenseits - außerhalb unseres Beobachtungskosmos und fern jeder Nachprüfbarkeit - mit der großen Abrechnung wartet, mit Paradies, Hölle und Fegefeuer. Diese Aussagen sind nicht kritisierbar und folglich per se nicht mit der Wissenschaft vereinbar. Der Richtergott ist ein klassisches Dogma.

Das ändert sich auch nicht, wenn dieser Gott nur ein Vehikel ist, um die Menschen zum Einhalten von Verhaltensrichtlinien zu motivieren, wenn also die Behauptungen nur Werkzeuge einer verschlungenen Ethik sind. Aussagen sind am Wortlaut zu beurteilen. Stellen sie sich nicht der Kritik, oder bestehen sie die Kritik nicht, dann fallen sie bestenfalls in die Kategorie der gutgemeinten Lügen, vergleichbar mit den Gruselgeschichten, die man Kindern auftischt, um sie zum richtigen Verhalten zu bewegen; zum Beispiel, dass intensives Fernsehen viereckige Augen macht. Wie jede andere Lehre muss Ethik ihre Wege mit der Wissenschaft finden, nicht gegen sie.

Gott Nummer 2, der Schöpfer, Erschaffer der Welt, steht nicht direkt im Konflikt mit wissenschaftlichen Prinzipien. Die Entstehungsgeschichte hat Spuren auf der Erde hinterlassen und ist deshalb als historischer Fakt untersuchbar. Welche der theoretischen Möglichkeiten, zu denen verschiedene Arten gezielter Schöpfung durchaus zu rechnen sind, in den Rang wissenschaftlicher Wahrheit gelangt, ist keine Frage von Prinzipien und Glauben, sondern von Indizien und Wahrscheinlichkeiten. Es ist eine Frage von fossilen Knochen, zerfallenden Kohlenstoffatomen und Beobachtungen in der Tier- und Pflanzenwelt der Gegenwart. Rein theoretische Argumente gegen die Schöpfung sind Unsinn, und wer sich dazu hinreißen lässt, erweist der Wahrheit keinen Dienst. Richtig ist: Am Ende rückt die Wissenschaft doch von der Schöpfung ab, aber völlig unspektakulär, so wie von tausenden anderen Thesen auch. Die vorliegenden Indizien lassen eben andere Erklärungen für die Dinge wahrscheinlicher sein. Wären die Indizien andere, dann wären auch die Schlussfolgerungen andere. Hätte eine Schöpfung stattgefunden, dann wäre die Wissenschaft unter günstigen Umständen auch in der Lage, das festzustellen.

Die Entstehung der Welt ist nicht der einzige Moment in der Geschichte, in dem das Wirken Gottes vermutet werden kann, auch kleinere Begebenheiten lassen Raum für entsprechende Thesen. Sie alle sind als historische Fakten untersuchbar. Grundlage dafür sind die vorliegenden Indizien und die Gesetzmäßigkeiten, die sich in der Gegenwart feststellen und prüfen lassen. Der "fertige" Gott ist insofern unkompliziert, als er die Gesetzmäßigkeiten unberührt lässt, auf denen seine eigene Überprüfung beruht.

Das gilt für Gott Nummer 3 nicht: den Ordnungsgott, der auch heute noch und in Zukunft in die Welt eingreift, und zwar innerhalb unserer Beobachtung. Diese Vorstellung von Gott hat verschiedene extreme Untervarianten, die per se kein Wissen sein können:

  • Gottes Eingriffe sind so massiv, dass der Mensch die eigentlichen Gesetzmäßigkeiten, also jene, die auch für Gott selbst gelten, gar nicht erkennen kann. Ohne bekannte Gesetzmäßigkeiten ist eine Kritik Gottes praktisch unmöglich.
  • Gottes Eingriffe sind völlig willkürlich. Es ist kein Verhaltensmuster erkennbar, zumindest nicht für den menschlichen Verstand. Unter diesen Umständen hat es keinen Nutzen, eine fremde Intelligenz in die Theorien einzubauen. Es entspricht nicht dem Prinzip der Sparsamkeit. Vorgänge, die weder das Wirken einer Intelligenz erkennen lassen noch in jedem Aspekt durch natürliche Ursachen begründet werden können, nennt man eben Zufall, so wie es zum Beispiel beim Zerfall von Atomkernen getan wird.
  • Gottes Eingriffe sind erkennbar gezielt, aber so selten, dass sie zwischen den viel zahlreicheren echten Zufällen auch für Zufälle gehalten werden. Auch diese Behauptung ist praktisch nicht kritisierbar.

Zwischen diesen Extremen bleibt aber durchaus Raum. Die These von einer fremden, erkennbaren Intelligenz ist kritisierbar und folglich potenzielles Wissen. Gleichzeitig sind Ereignisse denkbar, die sie als Erklärung wahrscheinlich und alle konkurrierenden Erklärungen sehr unwahrscheinlich machen. Unter bestimmten Verhältnissen könnte deshalb die fremde Intelligenz, sei sie nun Gott genannt oder anders, von der Wissenschaft gegenüber anderen Theorien bevorzugt werden. Die Frage ist nur eben, ob solche Verhältnisse derzeit bestehen.

Gott Nummer 4 in unserer kleinen Liste ist vielgestaltig. Die Unschärfe des Begriffs erlaubt es, dass einer, der unbedingt an Gott glauben will, dieses Etikett einfach an ein beliebiges faktisches Phänomen klebt: an die Gesamtheit aller Naturgesetze, an den Zufall, an die Evolution, an die Liebe, an die Schönheit, an das Eisbein mit Sauerkraut. Das lässt sich, durch Verzicht auf jegliche weitere Behauptungen über Gott, soweit treiben, dass Gott zum bloßen Synonym für die jeweilige Sache wird und die Wissenschaft seine Existenz bestätigt.

Festzuhalten bleibt, dass die Nichtexistenz Gottes keinesfalls ein Dogma der Wissenschaft ist. Es gibt in der Wissenschaft außer der Logik keine Dogmen; auch keine bezüglich Gott. Der Vorwurf, an die Nichtexistenz Gottes zu glauben, so wie die Religion an seine Existenz glaubt, also den Glauben über Gott nur umzukehren, trifft möglicherweise einige fanatische Atheisten, aber nicht die Wissenschaft. Wenn die Wissenschaft bestimmte Vorstellungen über Gott verwirft, dann ist das die Konsequenz ihrer Methoden.

 

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