Kapitel 1: Entscheidungen  •  Abschnitte 7 bis 12

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Das Prinzip der kompetenteren Quelle

Das Individuum kann also auf der Grundlage seiner Beobachtung eine bestimmte, unperfekte Art von Wissen gewinnen. Mit diesem Wissen aus eigener Beobachtung lässt sich durchaus schon etwas anfangen. Viele Tiere sind lernfähig, verfügen also über eine einfache Intelligenz, die auf selbstgewonnenes Wissen aufsetzt. Schon der Umstand, dass diese Art von Intelligenz im Spiel von Mutation und Selektion entstanden ist, beweist ihre Leistungsfähigkeit, denn er bedeutet, dass sie das Überleben begünstigt.

Bei uns Menschen genügt das Wissen aus eigener Beobachtung nicht. Es genügt nicht einmal zum Überleben, vom Erhalt der Zivilisation ganz zu schweigen. Unser Leben baut massiv auf den Erkenntnissen und kollektiven Erfahrungen vergangener Generationen auf. Wissen ist in der Welt der Menschen eine komplexe Angelegenheit. Wir stehen hier vor einem großen Thema, das uns entsprechend lange beschäftigen wird.

Es ist unumgänglich, gelegentlich Wissen von einem Menschen an einen anderen weiterzugeben. Dieses Weitergeben ist problematisch, denn bei dem, was der eine Mensch sein Wissen nennt, kann es sich um nützliche Erkenntnisse handeln oder aber um großen Unfug. Im ersten Fall wäre es besser, wenn der andere Mensch das Wissen übernimmt, im zweiten wäre es besser, wenn er es nicht tut. Wann er was tun sollte, ist für ihn schwer zu entscheiden, denn der Zweck der Übertragung von Wissen ist ja gerade, ihm zu sagen, was er aus Logik und eigener Beobachtung nicht erkennen kann. Er kann es in der Regel also auch nicht überprüfen, außer auf innere Widersprüche. Was also sollte er als Wissen akzeptieren, was sollte er hinterfragen, und was darf er sofort verwerfen? Oder allgemein: Nach welchen Prinzipien wird Wissen weitergegeben?

Ein sehr einfaches und naheliegendes System funktioniert so: Jeder Mensch sucht, um sein Wissen zu beziehen, nach einer geeigneten Quelle. An dieser Quelle sollte in der jeweiligen Angelegenheit eine größere Kompetenz vorhanden sein als bei ihm selbst. Die Menschen bilden gewissermaßen eine Pyramide des Wissens, mit den Experten an der Spitze. Den Experten ihrerseits stehen die Überlieferungen noch klügerer Fachleute aus der Vergangenheit als Quelle zur Verfügung. Dieses Prinzip hat bis in die Frühmoderne die Welt des Wissens bestimmt.

Wissenschaft

So fruchtbar und wichtig der Austausch von Wissen zwischen Individuen auch ist: Er ändert nichts am Charakter dieses Wissens. Die wenigen Gewissheiten wurden schon aufgezählt: Die Eigenschaften der Logik, ein A-Priori-Wissen von begrenztem Wert, die individuelle Wahrnehmung. Das ist das wenige Wissen, das wir als gegeben annehmen dürfen. Alles, was darüber hinausgeht, ist Vermutung. Ein solches unsicheres Wissen untereinander auszutauschen, lässt aus ihm keine endgültige Wahrheit werden. Wir hatten für die individuelle Erkenntnis Schwierigkeiten ausgemacht, die darin begründet liegen, dass sie sich nur auf Logik und Beobachtung stützen kann. Gleiches gilt aber für die kollektive Erkenntnis. Letztendlich erschöpfen sich die Möglichkeiten der Gemeinschaft darin, mit erheblich größeren Ressourcen das Gleiche zu tun wie das Individuum: Thesen aufzustellen und die brauchbarsten davon auszuwählen.

Diesem Umstand wird das Prinzip der kompetenteren Quelle in der beschriebenen strengen Form nicht gerecht, speziell beim Umgang mit der Überlieferung. Überliefertes Wissen ist nicht beliebig interpretierbar, sonst wäre es wertlos. Es muss einen festen Kern haben, und der feste Kern der akzeptierten Überlieferung wird durch das Prinzip der kompetenteren Quelle zum Dogma - es ist kein Weg vorgesehen, die Aussagen anzufechten. Das wäre selbst dann bedenklich, wenn endgültiges Wissen grundsätzlich erreicht werden könnte, denn der Wissensschatz wäre ja trotzdem von Menschen hergestellt, und Menschen machen Fehler. Nun ist die Situation gar die, dass der Kern des Wissens nur aus Vermutungen besteht. Dogmatismus ist keine geeignete Art, damit umzugehen. Die Gemeinschaft entwickelt sich weiter, sie gewinnt neue Beobachtungen, wird zu neuen Vermutungen getrieben. Es ist ganz klar, dass sich das überlieferte Wissen dabei als korrekturbedürftig erweisen kann. Mit dem Prinzip der kompetenteren Quelle in strenger Anwendung sind solche Korrekturen, wenn sie überhaupt stattfinden, jedesmal ein mühsamer Kampf, ein Verstoß gegen die Prinzipien und eine Krise des Systems. Damit ist das Konzept am Ende sogar eine Wurzel physischer Gewalt. Wenn Forscherdrang und Diskussion das System in eine Krise nach der anderen stürzen, dann liegt es nahe, sie zu unterdrücken. Die historischen Erfahrungen entsprechen dem.

Versuchen wir also, das Prinzip der kompetenteren Quelle so zu modifizieren, dass es diese Schwäche verliert. Es soll nach wie vor den Zweck erfüllen, Wissen zwischen Menschen zu übertragen, ohne dabei aber Dogmen zu erzeugen. Wie kann das funktionieren? Wie lässt sich auf überliefertes Wissen aufbauen, ohne sich im gleichen Atemzug alle alten Irrtümer, Manipulationen und Fantastereien zu eigen zu machen?

Damit niemals etwas Unsinniges zum Dogma werden kann, müssen alle Aussagen, die ihrem Wesen nach Vermutungen sind, unter allen Umständen offen bleiben für Kritik und auch für Korrektur, und das auf ewig. Wie auch immer die Gemeinschaft die Weitergabe von Wissen bewerkstelligt, diese Bedingung muss erfüllt bleiben. Der Fall, dass neue Beobachtungen oder neue Überlegungen eine Korrektur am Wissen angebracht erscheinen lassen, darf kein Versagen bedeuten - im Gegenteil: Er muss für möglich gehalten werden und sollte geregelt sein, und das selbst hinsichtlich der tiefsten Überzeugungen. Nur unter diesen Bedingungen kann sich das Wissen bestmöglich entwickeln. Wie so häufig, liegt also der Schlüssel zum optimalen Ergebnis nicht darin, keine Fehler zu machen, sondern Fehler so effektiv wie möglich zu korrigieren.

Diese Methode des uneingeschränkten und unendlichen Infragestellens aller Aussagen entspricht dem, was die Wissenschaft ihrem Ideal nach ist. Das konstituierende Prinzip der modernen Wissenschaft ist die Kritik.

Leider ist das in der Praxis nicht immer leicht zu erkennen. Es gibt andere, viel auffälligere Konzepte, die häufig mit wissenschaftlichem Vorgehen verbunden sind - besonders jene, die Modellen oder Beobachtungen zu größerer Genauigkeit verhelfen: mathematische Formeln, Fachsprache, aufwändige Experimente, das Benutzen von Messgeräten. Es ist ein verbreitetes Missverständnis, Wissenschaft einfach als die Summe dieser Konzepte aufzufassen. Genauigkeit ist nur ein Hilfsmittel; sie kann mit Kritik verbunden sein oder mit Dogmen. Keine Apparatur, keine Berechnung und kein imposanter Fachausdruck beweist schon Wissenschaftlichkeit.

Der Zweifel andererseits, obwohl Ausgangspunkt und Hauptsache der Wissenschaft, findet sich kaum als typische Eigenart wissenschaftlicher Verkündungen wieder. Denn auch wenn wissenschaftliches Wissen nie endgültig gesichert ist, ist es doch in vielen Fällen bis auf weiteres ziemlich eindeutig, was die Wissenschaft mit ihren Ansichten entsprechend selbstbewusst auftreten lässt. So reiht sie sich scheinbar ein in die Schar miteinander konkurrierender Weltanschauungen, die alle mit der gleichen Inbrunst ihre jeweiligen Lehren verkünden. Der wesentliche Unterschied ist nicht immer einfach zu erkennen. Aber die Aussagen der Wissenschaft unterscheiden sind grundlegend von denen der dogmatischen Konkurrenz. Sie sind das Produkt einer permanenten Weiterentwicklung, die vorangetrieben wird von uneingeschränkter Kritik.

Natürlich haben sich im Laufe der vielen Generationen, über die eine Wissenschaft moderner Prägung mittlerweile betrieben wird, einige Konzepte durchgesetzt. Es hat sich eine Sammlung von Methoden, Gepflogenheiten, Richtlinien und Wertmaßstäben gebildet, die man als die "Prinzipien der Wissenschaft" bezeichnen könnte. Bei diesen Prinzipien handelt es sich aber nicht um echte Dogmen, denn sie alle lassen sich daran messen, wie gut sie dem Zweck dienen, das Wissen bestmöglich weiterzuentwickeln. Damit unterliegen auch die Prinzipien der Wissenschaft einem Fortschritt.

Es besteht eine gewisse Gefahr, in diesen Prinzipien Inhalte zu vermuten, die sie nicht haben. Keins der wissenschaftlichen Prinzipien trifft zum Beispiel eine Aussage darüber, wie alt die Erde ist oder auf welche Weise sie entstand. Konkrete Aussagen der Wissenschaft sind nur das Ergebnis der wissenschaftlichen Prinzipien, gehören aber selbst nicht zu ihnen. Die Prinzipien beschreiben nur allgemeine Methoden und abstrakte Kriterien. Sie müssen folglich nicht bei jeder neuen Erkenntnis korrigiert werden und erheben sich damit über die Schnelllebigkeit konkreter Aussagen. Sie erlauben und erzwingen Veränderung, ohne sich selbst zu verändern. Sie könnten also sogar als Dogmen gehandhabt werden und bildeten immer noch einen großen Fortschritt gegenüber dem Prinzip der kompetenteren Quelle, das von Unmengen konkreter Dogmen gelähmt wird.

Kritik

Auf welche Weise kann nun das Prinzip der kompetenteren Quelle modifiziert werden, so dass die Forderung nach uneingeschränkter Kritik erfüllt wird? Es muss Umstände geben, unter denen ein Einzelner sein mittels Beobachtung und Logik gewonnenes Wissen über das von vermeintlich größeren Experten stellt. Der beste Punkt für eine solche Lockerung des Prinzips ist die höchste lebendige Ebene der Pyramide, die der Experten. Sie müssen dazu ermächtigt sein, Korrekturen vorzunehmen - sprich: Überlieferungen zu verwerfen.

Natürlich ist es nicht praktikabel, dass jeder Experte die komplette Überlieferung in Frage stellt oder auch nur ein Tausendstel davon. Auf der individuellen Ebene muss der weitaus größte Teil des überlieferten Wissens als richtig angenommen werden. Wenn aber der einzelne Experte frei wählen darf, welche Aussagen er anhand eigener Logik und Beobachtung überprüft, dann ist durch die Gesamtheit der Experten letztendlich doch die komplette Überlieferung in der Kritik. Jede notwendige Korrektur kann geleistet werden.

Diese Änderung der Grundsätze beseitigt die größte Erschwernis für die Entwicklung des Wissens, aber das allein genügt nicht. Der Gedanke, jede Kritik zuzulassen, muss sich auch in der Art wiederfinden, wie die Grundsätze gelebt werden. Wie die Praxis zeigt, ist das keineswegs selbstverständlich. Einzelne Aussagen können sehr wohl auf unwissenschaftliche Art gehandhabt werden, so dass sie gegen Kritik geschützt sind - oder umgekehrt: so dass ihnen keine faire Diskussion zuteil wird. Wenn es aus irgendwelchen Gründen als unzulässig gilt, eine Aussage infragezustellen, dann ist sie ein Dogma. Wenn umgekehrt eine Aussage praktisch nicht geäußert werden kann oder nicht ernsthaft überdacht wird, dann kann auch das einen Irrtum konservieren; wenn nämlich die unterdrückte Aussage gerade das Argument ist, das den Fehler aufzeigt.

Einige Beispiele für unwissenschaftliche Praktiken:

  • Das Äußern von Kritik an bestimmten Aussagen ist schlicht verboten, also mit rechtlichen Konsequenzen behaftet. Besonders beliebt ist diese Methode bei Staaten, die auf ein unwissenschaftliches Theorie-Fundament gründen. (Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland gibt es politische Dogmen.)
  • Es wird auf sozialer Ebene keine Meinungsfreiheit gewährt. Es gibt also einige Aussagen, die sich dadurch auszeichnen, dass derjenige, der sie äußert, seinen Status gefährdet.
  • Eine Aussage wird abgelehnt, weil ihr bloßes Vorbringen zunächst einen unerwünschten Effekt hat. Zum Beispiel kann eine These zum Streit zwischen verschiedenen Gruppen führen. Der Urheber hat dann in gewisser Weise "Unfriede gesät", und das ist als Argument gegen eine These durchaus anzutreffen.
  • Eine Aussage geht auf eine besondere Person zurück, an der Kritik nicht als zulässig gilt oder nicht ernst genommen wird. Oder, anders herum, sie ähnelt der Aussage einer Person, von der man annimmt, dass sie unmöglich im Recht sein kann. (Es mag für den Einzelnen sinnvoll sein, hin und wieder auf Kriterien dieser Art zu vertrauen, um sich ein schnelles Urteil zu bilden, das mit einiger Wahrscheinlichkeit richtig ist. Spätestens in der Diskussion dürfen solche Argumente aber keine Gültigkeit mehr haben.)
  • Es wird eine sehr einfache Denkweise akzeptiert, mit der eine Aussage nur aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften jedwedes Gegenargument abprallen lassen muss. Sie gilt zum Beispiel als fortschrittlich, und jede Gegenmeinung ist mithin reaktionär oder hinterwäldlerisch und wird ohne eigene Diskussion als Unfug abgetan.
  • Wer als Experte gelten darf, entscheidet sich nicht anhand seines Wissens und seiner Fähigkeiten, sondern es wird von denen bestimmt, die den Experten-Status schon besitzen. Damit sind sie in die Lage versetzt, Kritik an der bestehenden Expertenmeinung zu unterdrücken.
  • Die vorherrschende Meinung wird als Kriterium missverstanden, anhand dessen universell zwischen Richtig und Falsch unterschieden werden kann. Jeder Gedanke, der ihr nicht entspricht, ist dann zwangsläufig Unsinn. Das Resultat: Die Mehrheitsmeinung ist de facto nicht kritisierbar und damit nicht veränderbar, der Fortschritt der Erkenntnis kommt zum Erliegen. (Nur für eine bequeme Minderheit ist es statthaft, das Prinzip der kompetenteren Quelle auf diese Art zu handhaben. Sobald es eine Mehrheit ist, die so verfährt, macht sie ihre eigene Meinung zum Kriterium dafür, was ihre Meinung sein sollte. Die vorherrschende Meinung darf nur ein Instrument zur Verbreitung des Wissens sein, nicht sein Ursprung.)

Letztendlich haben alle genannten Beispiele mit der Freiheit oder der Chancengleichheit von Meinungen zu tun. Das verdeutlicht den Wert der Meinungsfreiheit. Meinungsfreiheit wird manchmal missverstanden als rein soziale Maßnahme mit dem Zweck, ein angenehmes, lockeres Lebensgefühl herzustellen. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, die Weiterentwicklung des Wissens zu gewährleisten.

Es gibt keine theoretische Rechtfertigung dafür, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Jede Forderung dieser Art beruht auf der seltsamen Vermutung, mit weniger Diskussion besser zu wissen was richtig und was falsch ist. Natürlich ist es rechtens, sich an einer Diskussion, die man für überflüssig hält, nicht zu beteiligen; sie aber gleich zu verbieten oder zu ächten, ist kein Dienst an der Wahrheit. Allzu leicht tappen Menschen in diese Falle: Das Falsche soll nicht mehr geäußert und das Richtige nicht mehr infragegestellt werden dürfen. Es gibt aber keinen Zeitpunkt, ab dem sich Richtig und Falsch sicher und endgültig identifizieren lassen. Eine Diskussion kann ruhen, aber sie kann nicht enden.

Die Notwendigkeit der Kritik führt zu einem Verständnis der Kategorien "richtig" und "falsch", das komplexer ist, als es die menschliche Intuition haben will. Dass eine Aussage richtig ist, bedeutet nicht, sie sei sicher und endgültig und bedürfe keiner weiteren Diskussion. Umgekehrt ist eine falsche Aussage nicht sicher und endgültig falsch; sie kann und sollte weiterhin diskutiert werden. Diese Situation ist verwirrend und drängt zur gedanklichen Vereinfachung - insbesondere zur Vorstellung, es gebe gar kein Richtig und Falsch. Das aber ist Unsinn. Der wesentliche Unterschied zwischen Richtig und Falsch bleibt auch mit dem komplexeren Verständnis erhalten: Eine Aussage dient einem, der sie für falsch hält, niemals als Grundlage einer Entscheidung. Sie ist für ihn kein Wissen. Der Weg des Falschen endet in der Diskussion, während dem Richtigen alle Bereiche des Denkens offen stehen.

Auch Meinungsfreiheit bedeutet nicht, alle Thesen als Wissen zu akzeptieren. Zur Kritik gehört, dass Aussagen verworfen werden. Man findet gelegentlich, etwa in Bezug auf die Philosophie, die Ansicht vor, alle interessanten Theorien sollten als gleichwertige Alternativen bestehen bleiben. Auch diese Haltung ist unwissenschaftlich. Das Verwerfen einer Theorie mag oft schwierig zu bewerkstelligen sein, es aber von vornherein auszuschließen, entspricht nicht dem Grundsatz der Kritik.

Was Worte zu Thesen macht

Damit das Wissen entwicklungsfähig ist, genügt es nicht, auf eine geeignete Art damit umzugehen. Das Wissen selbst muss bestimmte Eigenschaften haben. Eine Aussage darf nur dann Teil des Wissens sein, wenn sie auch die Möglichkeit offen hält, daraus wieder entfernt zu werden. Zur Aussage muss eine Prüfung gehören; und zwar eine, die tatsächlich Raum für einen negativen Ausgang lässt. Es müssen sich Umstände denken lassen, unter denen die Aussage fallengelassen und eventuell durch eine andere ersetzt würde. Kurz: Jede Aussage muss kritisierbar sein.

Mit dieser Forderung bleibt in der Wissenschaft nur Platz für sehr wenige Arten von Aussagen.

Die erste Art bilden, wir ahnen es, Theorien über Gesetzmäßigkeiten. Aus ihnen lassen sich Schlussfolgerungen über Beobachtungen ziehen, und diese lassen sich mit realen Beobachtungen vergleichen, was die geforderte Prüfung ermöglicht.

Im Prinzip sind dafür alle Beobachtungen geeignet. Zum Beispiel können sie aus der Vergangenheit stammen. Wenn eine Theorie schon anhand früherer Beobachtungen als ungeeignet erkannt wird, erübrigen sich weitere Prüfungen. Bestätigen alte Beobachtungen dagegen die Gesetzmäßigkeit, dann ist Vorsicht geboten, wie wir feststellen werden, wenn es um das Prinzip der Sparsamkeit geht. Wissenschaftliche Praxis bei vielversprechenden Theorien ist die Prüfung anhand zukünftiger Beobachtungen - schon alleine deshalb, weil für solche gezielt die nötigen Bedingungen hergestellt werden können. Die behauptete Gesetzmäßigkeit wird also zur Vorhersage benutzt und daran gemessen.

Die Art der Prüfung hängt von der Art der Gesetzmäßigkeit ab. Am einfachsten ist die Situation bei qualitativen Aussagen. Um die vorhergesagte Beobachtung mit der realen Beobachtung zu vergleichen, genügt hier die Logik. Zum Beispiel lässt sich aus der Theorie, dass die Atmosphäre eines Planeten Sauerstoff enthält, vor dem Hintergrund einiger naturwissenschaftlicher Erkenntnisse schlussfolgern, dass das Spektrum des Lichts, das sie durchquert, gewisse Absorptionslinien aufweist. Tut es das nicht, dann ist die Theorie logisch widerlegt. Sie wäre dann mit einem erheblichen Makel belastet, was mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sie verworfen wird.

Etwas anders verhält es sich mit Theorien über reell-quantitative Zusammenhänge, die also zum Beispiel Aussagen über die Größe von Kräften oder über Energiemengen treffen. Ihre Schlussfolgerungen sind Zahlenwerte, deshalb können sie in einen Wettstreit um die größte Genauigkeit treten. Die weniger genauen Theorien werden verworfen. Die prüfende Beobachtung ist hier freilich ein reeller Messwert und deshalb selbst nie absolut genau. Viele Theorien sind genauer als die verfügbaren Messverfahren, d.h. ihnen ist keine Ungenauigkeit nachweisbar. Man könnte sie euphorisch als "richtig" bezeichnen, aber die einfachere Vorstellung ist wohl, dass alle diese Theorien ihre Ungenauigkeiten haben, ob nun messbar oder nicht. Letztendlich ist nicht feststellbar, ob es überhaupt irgendeine reell-quantitative Theorie gibt, die absolut exakt ist. Es geht bei der Prüfung solcher Theorien aber auch nicht um Richtigkeit, sondern um Genauigkeit.

Diese Art von Wissen entwickelt sich also dadurch, dass Theorien durch andere, die eine bessere Präzision erreichen, ersetzt werden. Dieser Vorgang ist nicht immer einfach als solcher zu erkennen, weil die Neigung besteht, Verbesserungen der Genauigkeit als Überwinden von Irrtümern zu feiern. Auch dazu ein Beispiel aus der Astronomie. Im ausgehenden Mittelalter setzte sich das heliozentrische Weltbild gegen das frühere geozentrische durch, und wir betrachten diese weltanschauliche Veränderung rückblickend als Durchbruch der Wahrheit, als Ersetzen des Falschen durch das Richtige. Bei Lichte besehen unterscheidet sich die Tauglichkeit der beiden Modelle aber nur graduell. Dass die Planeten auf elliptischen Bahnen um eine unbewegliche Sonne kreisen, wie es das heliozentrische Modell wissen will, ist nicht der Fall. Die Objekte des Sonnensystems vollziehen eine komplexe Bewegung, in der jeder Körper die Bahn jedes anderen beeinflusst. Sie wirbeln um einander. Die Sonne ist einer dieser Körper, und sie tanzt den Reigen mit. Richtig ist nur: Sie hat die mit Abstand größte Masse und übt deshalb hinsichtlich der Bahngeometrie den größten Einfluss aus, während sie selbst gleichzeitig am wenigsten beeinflusst wird. Die Formulierung, dass alles um die Sonne kreist, ist eine ungleich genauere Beschreibung dieses Spektakels als die, alles kreise um die Erde. Aber weder ist das eine völlig richtig noch das andere völlig falsch.

Die zweite Art von wissenschaftlichen Aussagen sind historische Fakten. Die Prüfung erfolgt hier anhand von Indizien: Welche Ursachen haben, unter Berücksichtigung der bekannten Gesetzmäßigkeiten, am wahrscheinlichsten zu diesen bekannten Indizien geführt? Diese Ursachen gelten als historische Fakten, alle denkbaren anderen nicht. Eine Sicherheit, dass diese Wahl richtig ist und nicht doch andere, für weniger wahrscheinlich gehaltene Ursachen die bekannte Wirkung hervorgerufen haben, gibt es im Prinzip nie.

Das Spektrum ist hier aber breit. Einerseits gibt es Fälle, die so eindeutig sind, dass es schon lächerlich wirkt, von Indizien und Wahrscheinlichkeiten zu schlaumeiern. Zum Beispiel sind alle Messwerte historische Fakten; es dürfte aber recht selten sein, dass das Indiz, einen bestimmten Wert von einem Messgerät abgelesen zu haben, eine andere Ursache hatte, als dass die gemessene Größe tatsächlich diesen Wert hatte. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, zum Beispiel wenn es um eine weit zurückliegende Vergangenheit geht, in denen die Indizien komplex und lückenhaft sind - das Wissen wird dann mehr und mehr zur Vermutung. Außerdem sind die Indizien, wenn sie keine direkten Beobachtungen sind, selbst nicht mehr als historische Fakten, also schon ihrerseits mit Ungewissheit behaftet. Die Ungenauigkeit der Vermutung kann durchaus dazu führen, dass verschiedene Experten verschiedene Ursachen für die wahrscheinlichsten halten und demzufolge für verschiedenes Wissen streiten. Irgendwo gibt es eine Grenze, ab der man bei einer Vermutung üblicherweise nicht mehr von Wissen spricht; aber diese Grenze ist nicht scharf, denn jeder historische Fakt ist nur eine mehr oder weniger begründete Vermutung.

Die Prüfung der historischen Fakten hängt, wie gesehen, sowohl von den Indizien als auch von den Gesetzmäßigkeiten ab; d.h. sowohl im Falle neuer Indizien als auch im Falle neuer Erkenntnisse über Gesetzmäßigkeiten kann es passieren, dass eine Aussage ihren Status als historischer Fakt verliert und durch eine andere ersetzt wird. Auch diese Art von Wissen ist also entwicklungsfähig.

Die dritte Art von Aussagen, die wissenschaftlich akzeptabel sind, entsteht aus der Logik. Die Logik ist eindeutig definiert und ihre Anwendung deshalb prinzipiell kritisierbar, so dass unweigerlich alles, was deduktiv aus anderen kritisierbaren Aussagen hergeleitet ist, selbst alle Bedingungen erfüllt, um eine wissenschaftliche Aussage zu sein. Darunter fallen sogar Aussagen über die Zukunft, denn solche lassen sich mit Hilfe von Logik aus historischen Fakten und Theorien über Gesetzmäßigkeiten gewinnen.

Natürlich gibt es in der Praxis große Unterschiede dabei, wie schwierig die Prüfung einer Aussage ist; das Spektrum reicht von mühelos bis nahezu unmöglich. Eine Behauptung über die Brennbarkeit von Alkohol ist leichter nachzuprüfen als eine über das praktische Potenzial der Planwirtschaft. Diese Unterschiede spiegeln sich im Zustand der verschiedenen Wissenschaften wider: Da gibt es einerseits zuverlässige und weitgehend einträchtige wie die Chemie und andererseits unsichere, zerstrittene wie die Ökonomie. Das kommt nicht daher, dass die einen Wissenschaften alles richtig gemacht haben und die andern alles falsch, nein, die Prüfung der Aussagen auf ihren Gebieten ist nur verschieden schwierig. Besonders auffällig ist die Grenze zwischen den Fächern, die sich mit toten Dingen befassen (die sich jederzeit für ein Experiment benutzen lassen), und denen, die das Zusammenleben der Menschen zum Gegenstand haben. Gezielte Experimente würden bei Letzteren das Menschenrecht auf Selbstbestimmung verletzen, deshalb kann der Wissenschaftler auf Ereignisse, die sein Modell bestätigen oder widerlegen, oft nur warten.

Eine Aussage, die nicht a priori richtig ist, fällt entweder in eine der drei genannten Kategorien oder sie kann niemals Wissen sein.

Es ist freilich nicht ganz einfach, diese Feststellung auf die Praxis zu übertragen. Praktische Formulierungen sind oft nur mühsam einer der drei Kategorien zuzuordnen, weil die menschliche Sprache eben nicht mit der Priorität entstanden ist, den Charakter ihrer Annahmen deutlich zu machen. Gewisse allgemeine Überlegungen erleichtern die Zuordnung:

  • Bei einer Aussage kann es sich trotz kompakter Formulierung um eine Sammlung von Einzelaussagen handeln, die sehr wohl auch von verschiedener Art sein können.
  • Gesetzmäßigkeiten sind im Allgemeinen sehr abstrakt. Konkrete Aussagen wie "Der Eiffelturm steht in Paris" oder "Schokolade ist lecker" haben für einen Menschen selten die Rolle einer Gesetzmäßigkeit. Es handelt sich bei konkreten Aussagen also in der Regel entweder um historische Fakten oder um geschlussfolgerte Aussagen - oder aber um Sammlungen von Aussagen dieser beiden Typen.
  • Aussagen über die Gegenwart wie "Der Eiffelturm steht in Paris" sind immer Sammelaussagen, die in zweckmäßiger Verknappung sowohl die jüngste Vergangenheit als auch die nächste Zukunft beschreiben, ersteres in Form historischer Fakten und letzteres per Vorhersage auf der Grundlage des Wissens, welche Art von Zustand sich mit welcher Häufigkeit zu ändern pflegt. Eine wirkliche Gegenwart gibt es nicht.
  • Viele Aussagen der Umgangssprache sind so verknappt, dass ihre Kritisierbarkeit nicht sofort ersichtlich ist. Die Behauptung "Schokolade ist lecker" zum Beispiel bezieht sich auf das menschliche Geschmacksempfinden und müsste deshalb in präziserer Formulierung die Menschen, um die es geht, benennen. Das sind dann entweder "alle" oder "die meisten" oder ein einzelner wie "ich".

Die grundlegende Feststellung ist: Die Menge der Aussagen, derer sich Wissenschaft bedienen kann, ist durch die Forderung nach Kritisierbarkeit beschränkt. Während man also im Alltag recht schnell bereit ist, eine Ansammlung von Worten für eine sinnvolle Aussage zu halten, ist die Wissenschaft da sehr viel vorsichtiger. Es lassen sich in korrekter natürlicher Sprache unzählige Theorien formulieren, die bei Lichte besehen keine sind, weil in keiner Weise kritisierbar. Natürlich sind sie alle unwiderlegt, was so manchen Anhänger zu der Meinung ermutigt, sie seien jeder anderen unwiderlegten Theorie zumindest ebenbürtig. Aber eine Unwiderlegtheit, die mit Unwiderleglichkeit einhergeht, ist tautologisch und bedeutungslos. Solche Theorien sind für die Wissenschaft höchstens als Studienobjekt interessant; sie können niemals selbst Wissen sein, denn als solches wären sie Dogmen. Sie sind unwissenschaftlich.

Das kann schon damit beginnen, dass eine These einfach nicht klar genug formuliert ist. Manche Behauptungen sind so wolkig, dass sich jedes Gegenargument als Missverständnis deuten lässt. Es ist die Aufgabe der Verfechter, eine hinreichende Präzisierung zu liefern. Sind sie dazu nicht bereit oder nicht in der Lage, dann kann die Aussage auch nicht als These gelten.

Andere Formulierungen sind absolut klar und doch keine akzeptablen Thesen, weil keine Möglichkeit der Kritik besteht. Etwa folgende:

  • "In meinem letzten Leben war ich ein Schmetterling. Ich habe aber keine Erinnerungen daran, und es gibt auch sonst nichts, woran sich meine Identität mit diesem Schmetterling überprüfen ließe." - Kritisierbar ist hier nur die Nebenaussage, dass Schmetterlinge existieren. Die Hauptaussage stuft sich selbst als unwissenschaftlichen Quatsch ein, auch wenn sie andere Worte wählt.
  • "Jedes System hat einen Konstrukteur. Ist für ein System nicht feststellbar, dass es auf einen Konstrukteur zurückgeht, dann ist sein Konstrukteur ein nicht beobachtbares übernatürliches Wesen." - Es ist keine Erscheinung denkbar, die diese Theorie widerlegt. Jede Beobachtung würde ihr entsprechen, von der Maschine bis zum Naturphänomen. Die Aussage ist unwissenschaftlich.
  • "Produkte haben einen eigentlichen Wert, er entspricht dem Aufwand zu ihrer Herstellung. Zu diesem Wert werden sie aber nicht gehandelt." - Die Aussage bietet keinen Ansatzpunkt für eine Prüfung durch Beobachtung. Beobachten lässt sich der Handelswert eines Produkts, der aber nach Selbstauskunft der These nicht zu ihrer Überprüfung taugt. Die Aussage ist als Theorie unwissenschaftlich; sie ist nicht mehr als eine Definition, die Teil einer wissenschaftlichen (weil nachprüfbaren) Theorie sein könnte.

Unter den unwissenschaftlichen Theorien sind auch solche, die sehr wissenschaftlich anmuten, weil sie zum Beispiel mathematisches Formelwerk aufbieten oder eine eigene, an wissenschaftliche Fachsprache erinnernde Begriffswelt mitbringen. Aber ohne Kritisierbarkeit ist das alles nur pseudowissenschaftlicher Hokuspokus. Was Wissenschaft zur Wissenschaft macht und von Religion unterscheidet, ist die Kritik mitsamt ihren Notwendigkeiten.

Drei Arten von Sparsamkeit

Das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten spielt, wie wir gesehen haben, sowohl im Denken allgemein als auch speziell in der Wissenschaft eine große Rolle. Diese Art von Herausforderung begegnet uns in ganz verschiedenen Formen, aber schon ihre einfachsten Varianten zeigen charakteristische Schwierigkeiten.

Wir kennen, aus Knobelheften und Intelligenztests, die Aufgabe, eine vorgegebene Zahlenreihe fortzusetzen. Um das tun zu können, ist es nötig, zunächst die Gesetzmäßigkeit zu erkennen, die den Zahlen innewohnt - das ist die eigentliche Aufgabe. Die Aufgaben selbst mögen langweilig und fruchtlos sein, aber als Phänomen werden sie uns helfen, einen Zusammenhang zu verstehen.

Tatsache ist nämlich, dass alle diese Aufgaben sinnlos sind, wenn nicht eine zusätzliche Annahme getroffen wird. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel, die Reihe 1-2-3-4-5. Welche Zahl muss als nächstes folgen? Die meisten Menschen würden wohl antworten: 6.

Dahinter steht die These:

  • Es handelt sich um die Folge der natürlichen Zahlen. (Vermutung 1)

Richtig ist, dass diese These mit dem genannten Anfang der Zahlenreihe im Einklang steht. Das gilt aber genauso für viele andere Thesen, zum Beispiel:

  • Vermutung 2: Es handelt sich um eine endlose Periode der Zahlen 1 bis 5. Die nächste Zahl wäre in diesem Fall eine 1.
  • Vermutung 3: Es handelt sich um die Folge der natürlichen Zahlen mit Ausnahme derer, die eine Ziffer "6" enthalten. Als nächstes käme dann die 7.
  • Vermutung 4: Es handelt sich um die positiven Nullstellen der Funktion sin(1.1πx), gerundet auf ganze Zahlen. Nach der 5 käme hier eine weitere 5 und danach erst die 6.

Es gibt unendlich viele Thesen, die die Reihe 1-2-3-4-5 widerspruchsfrei erklären - die Vermutung 1 ist nur eine davon und nicht "widerspruchsfreier" als die anderen. Die Aufgabe ist in ihrer knappen Formulierung gar nicht falsch zu beantworten; jede Zahl kann gesetzmäßig auf die 5 folgen, wenn man nur die seltsamsten Gesetzmäßigkeiten in Betracht zieht.

Diese Art von Ambivalenz ist keine besondere Eigenart dieser Aufgabe oder dieses Typs von Aufgaben; sie ist ein ständiger Begleiter bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten jeglicher Art. Zu jeder Theorie, die aufgestellt wird, gibt es zahllose Alternativen, die den bis dahin gemachten Beobachtungen genauso entsprechen, von denen die meisten aber nicht einmal einer Erwähnung wert befunden werden - ganz wie unsere Vermutungen 2, 3 und 4 unter normalen Umständen. Wie können also Theorien überhaupt aufgestellt werden? Die Auswahl der Theorie kann schwerlich reine Willkür sein, denn die Wahrscheinlichkeit, aus unendlich vielen, echt verschiedenen Thesen zufällig die richtige zu wählen, ist Null. Offenbar haben Theorien neben der Stimmigkeit noch eine weitere Qualität, die wir noch nicht erkannt haben, und die als Auswahlkriterium taugt.

Dieses Kriterium haben wir selbst schon intuitiv benutzt, als wir die Vermutung 1 aufgestellt haben; wir müssen uns nur noch darüber klar werden, was es war. Was lässt uns glauben, auf die 5 müsse eine 6 folgen?

Tatsächlich gibt es etwas, das die Vermutung 1 über all die anderen widerspruchsfreien Thesen erhebt: Sie ist die sparsamste. Sie ist sehr elementar und kommt ganz ohne Parameter aus, wo die übrigen mit speziellen Zahlenwerten und mit Konstruktionen wie Ausnahmen und Perioden hantieren. Es ist ein allgemeines Prinzip des Denkens, unter Theorien, die sich hinsichtlich keines wichtigeren Kriteriums unterscheiden, die sparsamste zu bevorzugen. Das ist keine Frage der Faulheit, sondern der Wahrscheinlichkeit. Die sparsamste Theorie ist in der Tat mit der größten Wahrscheinlichkeit behaftet, sich als die beste zu erweisen, also auch mit zukünftigen Beobachtungen im Einklang zu stehen.

Das Sparsamkeitsprinzip anzuwenden, ist ganz normal, wenn ein Mensch in die Lage kommt, eine Gesetzmäßigkeit vermuten zu müssen. Wenn zum Beispiel ein Kleinkind festgestellt hat, dass der weiße Schnuller, der braune Teddy und die grüne Rassel alle zu Boden gefallen sind, nachdem es sie losgelassen hat, dann wird es vermuten, dass das mit allen Dingen passieren würde, die man in der Hand halten und loslassen kann. Es wird nicht glauben, das sei nur mit weißen, braunen und grünen Dingen so, während rote zur Seite wegfliegen und blaue in der Luft stehen bleiben, obwohl diese unsparsame These seiner bisherigen Beobachtung genauso wenig widerspräche. Die Wissenschaftler reklamieren das Sparsamkeitsprinzip für sich, aber von ihnen stammt nur die Ausformulierung. Das Prinzip selbst gehört zur intuitiven Grundausstattung des denkenden Wesens, es optimiert das Wissen. Und meistens funktioniert es: Wenn das Kind auch das blaue Auto festhält und nicht loslässt aufgrund einer bloßen Theorie, die allerdings die sparsamste ist unter den nicht anders unterscheidbaren, dann tut es gut daran.

In gewisser Weise sind sparsame Aussagen ein Indiz dafür, eine Gesetzmäßigkeit tatsächlich erkannt zu haben. Nehmen wir als Beispiel wieder eine Zahlenreihe, diesmal eine etwas kompliziertere: 1-2-4-7-11. Auf die Frage, welche Gesetzmäßigkeit hier vorliegt, könnte ein ganz Schlauer wieder antworten: Es handelt sich um eine endlose Periode der Zahlen 1, 2, 4, 7 und 11. Die Behauptung steht nicht im Widerspruch zu den vorliegenden Daten.

Tatsächlich hätte er aber gar nichts verstanden, und schon mit der nächsten Zahl in der Reihe, einer 16, würde seine nutzlose These zusammenbrechen. Was er getan hat, ist, eine höchst unsparsame Theorie mit vielen Parametern und entsprechender Wendigkeit durch Gestalten dieser Parameter zur Übereinstimmung mit vorliegenden Daten zu bringen. Aber so untauglich und dreist die Methode an dieser Stelle wirkt: Es ist nicht einfach, sich ihr in der Komplexität der Praxis zu enthalten. Der Trick ist zu verlockend. Ein Urknall-Modell muss nicht annähernd richtig sein, um ein Universum mit der bekannten Struktur entstehen zu lassen, es braucht nur ausreichend mächtige Parameter und einen tatkräftigen Verfechter, der die passende Justierung findet. Wenn man sich von der Sparsamkeit nur ausreichend weit entfernt, lässt sich jeder beliebige Satz von Beobachtungen der Vergangenheit vollständig nachbilden, ohne die eigentlichen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Als Erfolg kann das Ergebnis eines solchen Vorgehens nicht gewertet werden, denn die so entwickelte Theorie ist höchstwahrscheinlich falsch - was mit zusätzlichen Beobachtungen auch offenbar würde. (Diese Problematik liefert ein gewichtiges Argument dafür, die prüfenden Beobachtungen erst nach dem exakten Formulieren der Theorie zu gewinnen, also die Vorhersagepräzision der Theorie zu prüfen.)

Fassen wir zusammen: Bei der ersten Art von Sparsamkeit geht es darum, die Qualität von Theorien zu bewerten und zwischen echt verschiedenen Theorien auszuwählen. Damit ist das Ambivalenzproblem verringert, aber komplett verschwunden ist es noch nicht. Kommen wir noch einmal auf unsere Zahlenreihe 1-2-3-4-5 zurück und sehen uns zwei weitere Theorien an:

  • Vermutung 5: Die Reihe beginnt mit 1, und ab der zweiten Zahl entsteht jede durch Erhöhen ihres Vorgängers um 2 und anschließendes Vermindern um 1.
  • Vermutung 6: Jede Zahl der Reihe ist auf folgende Art berechnet: Es wird die Summe aller vorangegangenen Zahlen gebildet, verachtfacht und um 1 erhöht. Daraus wird die Wurzel gezogen, der Wert wird wieder um 1 erhöht und zuletzt halbiert.

Diese beiden Vermutungen passen wieder zum gegebenen Anfang der Reihe und sagen diesmal für die nächste Zahl das gleiche voraus wie die Vermutung 1: eine 6. Und nicht nur das, sie sind auch bei der übernächsten und der überübernächsten und der millionsten Zahl der Reihe identisch zur Vermutung 1; für beide ist das nachweisbar. Die Vermutung 1 gegenüber diesen Theorien zu bevorzugen, lässt sich mit Wahrscheinlichkeiten nicht begründen, denn wenn eine richtig ist, sind es die jeweils anderen auch - die Wahrscheinlichkeit, richtig zu sein, ist für alle gleich. Es handelt sich gar nicht um verschiedene Gesetzmäßigkeiten, sondern nur um verschiedene Formulierungen derselben. Sich für die Formulierung aus Vermutung 1 zu entscheiden, ist nicht durch Wahrscheinlichkeiten begründet. Trotzdem steckt auch hier mehr dahinter als Faulheit. Eine Diskussion ist übersichtlicher und damit erfolgversprechender, wenn die Menge der Standpunkte zunächst auf diejenigen reduziert wird, die wirklich verschieden sind.

Nun tut es in der kühlen Welt der Zahlen nicht weh, zwei völlig verschieden anmutende Theorien als identisch zu akzeptieren, wenn sie erkennbar in die gleichen nachprüfbaren Aussagen münden, und die kompliziertere Formulierung aufzugeben. In anderen Bereichen ist das manchmal etwas schwieriger. Da kann es passieren, um unser Beispiel als Metapher zu benutzen, dass die Verfechter der Vermutungen 5 und 6 den prächtigsten wissenschaftlichen Streit austragen, ohne zu merken oder ohne akzeptieren zu wollen, dass sich ihre Positionen nicht unterscheiden. Es ist menschlich, sich an Wörter und gedankliche Konstruktionen zu klammern. Die zweite Art von Sparsamkeit empfiehlt aber, Theorien nicht an ihrer Formulierung zu unterscheiden, sondern an den nachprüfbaren Aussagen, die sich aus ihnen ergeben. Nur die effizienteste der bekannten Formulierungen einer Gesetzmäßigkeit hat die Chance, zum eigentlichen Wissen zu gehören. Von den übrigen sind bestenfalls ein paar wenige als alternative Sichtweisen bewahrenswert, wobei auch eine solche auf ihre Art wieder sparsam formuliert zu sein hat.

Ein Beispiel: Jemand kommt daher und behauptet, die vermeintliche Realität sei in Wahrheit nur eine große Illusion. Diese sei allerdings absolut perfekt, so dass wir unmöglich die Chance hätten, den Schwindel zu bemerken. Entgegen dem, was er glaubt, würde dieser jemand der Anschauung von der Realität gar nicht widersprechen, sondern sie nur nutzlos verkomplizieren. Seine These mündet in jeder Hinsicht in die gleichen Abhängigkeiten, die gleichen beobachtbaren Aussagen, die gleichen Entscheidungen. Die zusätzliche Illusions-Ebene ist ein überflüssiger Schnörkel im Weltmodell, durch den sich dessen Qualität nicht verbessert. Seine Theorie ist anders formuliert als die landläufige Meinung, inhaltlich aber identisch und dabei komplizierter. Noch vor jeder Überprüfung scheitert sie am Prinzip der Sparsamkeit.

Zuletzt gibt es da noch eine dritte Art von Sparsamkeit, die ebenfalls unser Wissen formt. Der Wissenschaftler hat für sie wenig übrig, aber wenn wir Entscheidungen treffen, sind wir eben keine Wissenschaftler, sondern Praktiker. Der Praktiker hat andere Prioritäten. Vor allem hat er geringere Ansprüche an die Präzision der Aussagen. Ob sie ungenauer sind als die genauesten Messverfahren und deshalb streng genommen widerlegt, ist dem Praktiker ziemlich egal. Sie müssen ausreichend genau sein. Das Kind soll pünktlich in der Schule sein, das Haus soll gerade stehen bleiben, die Landekapsel soll sanft auf dem Mond aufsetzen und nicht zerschellen. Die Aufgabe begrenzt das nötige Maß an Präzision.

Deshalb kann der Praktiker seinem Wunsch nach sparsameren und folglich praktikableren Modellen weiter entgegenkommen als der Wissenschaftler in seinem Fach. Er kann Modelle benutzen, die dieser verworfen hat. Das bedeutet nicht, dass die Wissenschaft zweifelhaft ist und sich mit ihren Prinzipien verirrt hat. Es bedeutet, dass der Zweck der Wissenschaft breiter ist, als es an ihrer Arbeitsweise deutlich wird. Ihre eigentliche Aufgabe ist nicht, nach den präzisesten Modellen zu suchen, sondern eine Palette an Modellen anzubieten, von den präzisesten bis zu den einfachsten, so dass der Praktiker nach seinen Anforderungen auswählen kann. Nur dient sie diesem Zweck im Allgemeinen dadurch am besten, dass sie nach den präzisesten Modellen sucht, denn darin liegt der große Aufwand, während sich die einfacheren, weniger präzisen Modelle meistens daraus ableiten lassen. Der Praktiker auf der anderen Seite verstößt nicht gegen die Regeln des bewussten Denkens, wenn er wissenschaftlich verworfene Modelle wie die Newtonsche Mechanik oder die Kugelform der Erde verwendet.

Und das gilt auch für die Praktiker des Alltags, die normalen Menschen. Wenn sie im 21. Jahrhundert einen luftgefüllten Hohlraum noch immer als "leer" bezeichnen, und wenn sie 500 Jahre nach Kopernikus noch immer davon sprechen, dass "die Sonne aufgeht", statt davon, dass sie aus dem Erdschatten rotieren, dann ist das kein Zeichen von Dummheit oder von Auflehnung gegen die Wissenschaft, sondern von zweckmäßiger Sparsamkeit. Auch extrem vereinfachte Modelle müssen nicht im Widerspruch zur Wissenschaft stehen, sondern können für ihren Anwendungsbereich akzeptable Kompromisse darstellen.

Die Grenzen des Wissens

Wissen hat einige der Eigenschaften, die man sich von ihm wünschen kann, und die man ihm im Alltag vereinfachend unterstellt, nur "fast". Der größte Teil des Wissens besteht aus Vermutungen. Selbst hinter den Erkenntnissen der Wissenschaft steht nur Wahrscheinlichkeit, nicht Sicherheit. Das Vermuten von Gesetzmäßigkeiten auf der Grundlage des Sparsamkeitsprinzips ist unsicher. Das Vermuten historischer Fakten anhand von Indizien ist unsicher. Beim deduktiv abgeleiteten Wissen multiplizieren sich gar die Unsicherheiten seiner logischen Ausgangspunkte. Unumstößliche Sicherheit jenseits des A-Priori-Wissens gibt es nicht. Wer dort von Sicherheit spricht, der meint entweder eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit oder er irrt sich. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen Wissen und Vermutung; auch die größte wissenschaftliche Strenge kann keine solche Grenze erzeugen. Letztendlich kann kein empirisch gewonnenes Wissen je mehr sein als ein vom Menschen erdachtes Modell oder eine Formulierung innerhalb eines solchen, um einen Aspekt der realen Welt nach bester gegenwärtiger Kenntnis nachzuzeichnen. Die Aussagen, die unser Wissen bilden, sind unsicher, von unbekannter Präzision und nicht endgültig. Die Suche nach der vollkommenen Wahrheit kann nicht erfolgreich sein in dem Sinne, dass sie ihr Ziel erreicht - nur in dem, dass sie die unvollkommenen Wahrheiten stetig verbessert.

Erinnern wir uns an die Aussage "Am Tage ist es hell" und daran, dass sie mit dem Erkennen der astronomischen Gesetze überflüssig wird. Offenbar sind manche Gesetzmäßigkeiten zwar annähernd richtig, aber nicht elementar, denn es lassen sich andere, allgemeinere Gesetzmäßigkeiten entdecken, die sie vollständig erklären und dadurch entbehrlich machen. Forscher erwecken manchmal den Eindruck, sie glaubten, mit ihren Erkenntnissen nach und nach auf eine Ebene von Gesetzmäßigkeiten vorzustoßen, wo Elementarität endlich gegeben ist. Aber diese Vorstellung grenzt an Esoterik. Weder lässt sich das Erreichen einer elementaren Ebene bemerken noch überhaupt ihre Existenz begründen.

Und es gesellt sich noch eine weitere Hoffnung zu denen, die Wissen nicht erfüllen kann: die Hoffnung, es sei allgemeingültig. Mit Ausnahme der a priori richtigen Aussagen sind alle Arten von Wissen letztendlich an der Beobachtung festgemacht - genauer: an unserer Beobachtung. Diese hat ihr Zentrum bei uns selbst und reicht in diversen Richtungen nur bis zu einer Grenze. Außerhalb der Beobachtung existieren zum Beispiel die Erscheinungen, die zu klein oder zu groß sind, zu schnell oder zu langsam oder zu weit entfernt, um von uns beobachtet werden zu können. Aber was uns verborgen bleibt, können wir in unserem Wissen nicht berücksichtigen. Unsere Erkenntnisse sind deshalb nicht universell, sondern sie haben ein Zuhause: die Welt all dessen, was wahrnehmbar auf unsere Beobachtung einwirkt. Über diesen Bereich hinaus könnten viele unserer Wahrheiten immer noch tauglich sein, aber welche das sind, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob eine physikalische Formel, die wir für allgemeingültig halten, das tatsächlich ist. Vielleicht ist sie nur die mathematische Entartung einer komplexeren Formel. Wir wissen nicht, ob eine vermeintliche Naturkonstante wirklich konstant ist oder nur konstant erscheint, weil die Abweichungen innerhalb unseres Beobachtungskosmos so gering sind, dass wir sie nicht messen können. Was wir Wissen nennen, ist eine unendlich ausgedünnte Sonderausgabe des hypothetischen Gesamtwissens für unsere Zeit, unseren Ort, unsere Größe und unsere Geschwindigkeit.

 

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