Kapitel 1: Entscheidungen  •  Abschnitte 1 bis 6

Entscheidungen


Über das Kapitel

Der Alltag ist voll von Aufgaben, die wir nur deshalb bewältigen können, weil wir über Verstand verfügen und ihn benutzen. Gelingt etwas nicht, dann ist die erste Lösungsidee, darüber nachzudenken. Warum ist der Versuch fehlgeschlagen? Was weiß ich, was will ich? Welche Logik verbindet das eine mit dem anderen? Verschwommene Ahnungen und spontane Entschlüsse werden ersetzt durch Klarheit und bewusstes Denken, getragen von der begründeten Hoffnung auf ein besseres Ergebnis. Dass die Dinge sich günstiger entwickeln, wenn mehr Geist in sie investiert wird, ist eine vorherrschende Erfahrung und gehört zu den Grundannahmen des menschlichen Daseins. Die Wörter "vernünftig" und "unvernünftig" sind in unserer Sprache keine neutralen Beschreibungen zweier gleichwertiger Vorgehensweisen, sondern sie trennen für uns den richtigen und den falschen Weg. Noch auffälliger ist der Zusammenhang zwischen Verstand und Erfolg auf der kollektiven Ebene: Nahezu nichts von dem, worauf wir als Gemeinschaft und als biologische Art stolz sind, keine technische, politische oder kulturelle Errungenschaft, ist vorstellbar ohne den Verstand.

Seit Menschengedenken steht deshalb die Idee im Raum, dieses Erfolgsrezept nicht nur bei offensichtlichem Bedarf aus der Schublade zu holen, sondern es mit aller Konsequenz anzuwenden; vom Verstand größtmöglichen Gebrauch zu machen und all das Vage, Intuitive, Irrationale, von dem trotz allem auch wir Menschen noch dominiert sind, weiter zurückzudrängen, ja es vielleicht sogar völlig auszuschließen.

Es soll im Folgenden nicht darum gehen, ob diese Idee gut ist. Uns wird vielmehr beschäftigen, was sie überhaupt bedeutet, denn schon das ist alles andere als klar. So einfach der Gedanke ist, den Gebrauch des Verstandes zu maximieren, so schnell scheitert seine Umsetzung. Schwierige Fragen türmen sich zu einer kaum überwindbaren Hürde. Gibt es eine objektive Vernunft? Was zu erreichen ist wichtig? Auf welches Wissen darf man vertrauen? Es sind die klassischen Fragen der Philosophie.

Wir werden also versuchen, den Weg der größtmöglichen Vernunft zu finden, und zwar bis hin zum Endprodukt des Denkens, den Entscheidungen. Was immer sich dabei an unausweichlichen Fragen stellt, wird beantwortet werden müssen. Unsere erste Aufgabe wird sein, die Werkzeuge zu identifizieren, derer sich das rationale Denken bedienen kann, und ihre jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen kennenzulernen. Falls diese Mittel nicht genügen, um Entscheidungen zu treffen, werden wir in möglichst kontrollierter Weise das nötige Maß an Unbegründetem zulassen. Am Ende müssen wir alles zu einer tauglichen Struktur verbinden, also zu einer, die tatsächlich Entscheidungen liefert.

Das Element Entscheidung

Es gibt Untersuchungen, bei denen vertraute und bewährte Vorstellungen plötzlich untauglich werden. Nehmen wir zum Beispiel die Chemie. Für die Chemiker ist die Welt bekanntlich aus "Elementen" zusammen gesetzt, Sauerstoff etwa, Kohlenstoff, Eisen. Diese Elemente können in mehr oder weniger großen Mengen vorkommen, bis hinunter zum einzelnen Atom, aber eine innere Beschaffenheit haben sie in der klassischen Chemie nicht. Es ist eine sehr sinnvolle Betrachtungsebene, denn die Atome sind unter den Bedingungen unserer Lebenswelt tatsächlich so gut wie unveränderlich. Viele Dinge können mit dem Modell der chemischen Elemente wunderbar erklärt werden.

Trotzdem ist es letztendlich eine Vereinfachung mit beschränktem Gültigkeitsbereich. Bei der Untersuchung eines einzelnen Eisen-Atoms offenbart sich: Sein Inneres ist keineswegs von Eisen durchsetzt. Vielmehr schwirren dort seltsame Teilchen, Protonen, Neutronen, Elektronen - nichts davon ist aus Eisen. Wer hier weiter der Vorstellung vom "Element" Eisen anhängt, der gelangt zu einem Widerspruch: Es gibt Eisen - und es gibt es nicht! Die Erklärung ist natürlich unspektakulär. Auf dieser Ebene ist einfach das Modell unbrauchbar, welches Eisen als Element beschreibt - das Eisen ist hier nur noch als Struktur treffend beschrieben, als Verbindung von Teilen.

Auch über Entscheidungen haben wir vertraute und bewährte Vorstellungen. Entscheidungen sind Bausteine unseres Verhaltens. Selbst von spontanen Bewegungen, denen kein besonderer Entschluss vorausgegangen ist, nehmen wir doch an, dass wir uns hätten entscheiden können, sie zu unterlassen. Verhalten schließt grundsätzlich Entscheidung ein. Dabei ist es egal, ob es um etwas Komplexes geht wie eine Urlaubsreise oder um etwas Elementares wie einen Blick; kein Schnipsel des menschlichen Verhaltens ist zu klein, um das Element Entscheidung enthalten zu können.

Doch auch dieses Modell kommt an eine Grenze. Es ist so naheliegend wie unsinnig, auch die Entscheidung selbst als Verhalten zu begreifen und darin wieder das Element Entscheidung zu erwarten. Wenn wir uns im Folgenden ins Innere der Entscheidung begeben, dann ist in einer Hinsicht klar, was uns dort erwartet - oder besser: nicht erwartet. Entscheidung wird für uns, entgegen der Gewohnheit, kein Element mehr sein. Keiner der Bausteine einer Entscheidung wird selbst eine Entscheidung sein oder eine Entscheidung enthalten. Jedem von ihnen wird irgendetwas fehlen, das wir von einer wirklichen Entscheidung erwarten. Darüber ist jedes Entsetzen fehl am Platz. Es handelt sich nicht um eine Erkenntnis, womöglich gar einer großspurigen Formulierung wert, sondern es liegt in der Natur der Sache. Eine Struktur ist eine Verbindung von Teilen, von denen keins sie schon enthält.

Logik

Am Anfang steht gleich ein Problem. Zu einem vollständig bewussten Entscheidungsprozess gehörte, dass auch die Methoden, auf denen er beruht, bewusst ausgewählt sind. Da wir an dieser Stelle aber noch keine Methode bewusst ausgewählt haben, sind wir unfähig, einen ersten Schritt zu tun. Wir verfügen über keine Methode, um eine Methode zu wählen.

Tatsächlich ist die Wahl des ersten Werkzeugs längst getroffen: Es ist die Logik. Allein der Charakter unseres Vorhabens macht es unmöglich, auf sie zu verzichten. Ohne die Logik gibt es kein Begründen, kein Schlussfolgern und kein Widerlegen. Wer zu argumentieren anhebt, der hat die Logik schon akzeptiert. Noch vor dem ersten Gedanken steht deshalb die Annahme, dass die Prinzipien, die wir als Logik bezeichnen, richtig sind.

Eine echte Begründung gibt es für diese Behauptung nicht. Jede Begründung für die Logik müsste sich der Logik schon bedienen. Andererseits stellt sich ohne Logik auch die Frage nach einer Begründung gar nicht, insofern ist die Diskussion müßig. Die Gültigkeit der Logik ist eine Grundannahme ohne Diskussion.

Allerdings ist zunächst offen, welche Logik damit gemeint sein soll. Der Logikbegriff von Philosophen und Mathematikern ist ein ganz anderer als der des Alltags. Auf der einen Seite steht ein strenges Kalkül, das für sich in Anspruch nimmt, auf der wohldefinierten mathematischen Aussagenlogik zu beruhen. Auf der anderen Seite tut sich etwas Komplexes auf, das von strenger Logik auch gelegentlich Gebrauch macht, aber weit darüber hinaus geht. Für welche Logik wollen wir uns an dieser Stelle entscheiden?

Aber auch dabei haben wir mit unserem angedachten Vorgehen keine Wahl. Denn es geht uns um möglichst bewusste Entscheidungen, und die Alltagslogik ist von unterbewussten Elementen durchsetzt - wir können nicht sicher sein, dass dieses Maß das minimal Mögliche ist, und es mutet sogar sehr unwahrscheinlich an. Außerdem ist die Alltagslogik ein diffuses und unübersichtliches Gebilde, das wohl jeder ein kleines bisschen anders versteht - bis hin zum Fußballfan, der es logisch findet, dass seine Mannschaft gewinnen wird. Wir können die Alltagslogik mit all ihren Unklarheiten, Intuitionen, Vermutungen und Widersprüchen nicht als Paket in unseren Entscheidungsprozess übernehmen; es würde das Vorhaben, diesen Prozess zu verstehen, zunichtemachen. Falls die Alltagslogik zusätzlich zur strengen Logik noch andere unverzichtbare Komponenten enthält, dann wollen wir wissen, welche das sind. Zunächst einmal akzeptieren wir die strenge Logik und nichts anderes.

Der erste Schritt ist also getan. Die Logik ist in unserem bewussten Entscheidungsprozess ein zulässiges Instrument des Denkens, und wir sollten eine erste Positionsbestimmung vornehmen. Welche Möglichkeiten stehen uns damit offen? Was leistet Logik? Irgendwie scheint sie ja Informationen hervorbringen zu können, warum also nicht auch die Information, wie eine Entscheidung getroffen werden muss? Sind Entscheidungen allein mit Logik möglich?

Tatsächlich fällt uns mit dem Akzeptieren der Logik eine riesige Menge an richtigen Aussagen zu. Es sind genau die Aussagen, die allein aufgrund ihrer logischen Struktur als unweigerlich richtig erkannt werden können. Zum Beispiel der Satz: "Es regnet oder es regnet nicht". Die reine Logik weiß nicht, was es bedeutet, dass "es regnet"; aber sie braucht dieses Wissen auch nicht, um den Satz zu bestätigen. Er ist zwingend gültig, sobald "es regnet" nur eine sinnvolle Aussage darstellt.

Die Tatsache "Es regnet oder es regnet nicht" ist a priori richtig, also allein durch das Denken als richtig erkennbar. Natürlich ist diese Aussage in keiner Weise bewahrenswert, weil sofort einsichtig. Sie ist eine Tautologie.

Es ist aber keineswegs so, dass sämtliche a priori richtigen Aussagen solches triviales Nicht-Wissen sind. A priori richtig sind zum Beispiel alle korrekten Schlussfolgerungen. So besagt ein beliebiger mathematischer Satz nicht mehr, als dass sich aus bestimmten Definitionen und Voraussetzungen rein logisch die Richtigkeit einer Behauptung schlussfolgern lässt. Damit ist er a priori richtig, genauso wie die Tautologie vom Regen. Ihn deshalb auch als ebenso überflüssig zu bewerten, wäre aber falsch.

Eine Erkennbarkeit mittels reiner Logik muss keine einfache sein. In der Geschichte der Mathematik finden sich dafür extreme Beispiele. Manche Vermutung widerstand für hunderte von Jahren den Beweisversuchen der Mathematiker, bis sie endlich auf komplizierte Weise bezwungen werden konnte. Das Beispiel der Mathematik zeigt, wie weit entfernt von Trivialität und Belanglosigkeit Aussagen sein können, die a priori richtig sind. Zudem enthält die Menge der Aussagen, deren Bewahrung und Vermehrung als Aufgabe der Mathematik betrachtet wird, nicht nur einige wenige mathematische Sätze, sondern sie besteht ganz überwiegend aus solchen. Das ganze Fach ergäbe keinen Sinn, würde man Aussagen, die a priori richtig sind, nicht zugestehen, Wissen zu sein. Die Doktrin Logik erzeugt ein A-Priori-Wissen.

Versuchen wir, uns über den Charakter dieses Wissens klar zu werden. Wir kennen schon Kriterien, nach denen es recht heterogen erscheint. Es enthält unverkennbare Tautologien genauso wie mathematische Sätze, die überraschend sind oder schwierig zu beweisen, zeichnet sich also nicht durch eine typische Komplexität oder Offensichtlichkeit aus. Ähnlich breit gestreut ist die Nützlichkeit der Aussagen. Einerseits sind all die Schlussfolgerungen a priori richtig, mit denen uns die Logik das alltägliche Denken möglich macht; Aussagen wie "Wenn das Tier nicht weiß ist und alle Eisbären weiß sind, dann ist das Tier kein Eisbär". Nicht weniger richtig aus Sicht der Logik ist aber "Wenn der Fleiß nicht verhext ist und alle Kuchen verhext sind, dann ist der Fleiß kein Kuchen"; auch dieser Humbug und Millionen von seiner Art gehören zum A-Priori-Wissen.

Die Frage ist, ob es neben diesen Unterschieden auch eine Gemeinsamkeit gibt; eine, die uns helfen kann, die Grenzen dieses Wissens zu erkennen. Welche Art von Erkenntnis lässt sich mit reiner Logik gewinnen, und welche nicht?

Damit eine Aussage allein aufgrund ihrer logischen Struktur als unweigerlich richtig erkannt werden kann, muss sie eine solche Struktur aufweisen. Sie muss mittels logischer Operatoren wie "oder" oder "wenn-dann" aus einfacheren Aussagen zusammengesetzt sein. Eine solche Struktur ist für eine Aussage nicht hinreichend aber notwendig, um a priori richtig zu sein. Eine verflochtene Wenn-Dann-Aussage, die sich irgendwie um Eisbären dreht, kann a priori richtig sein, nicht aber eine ganz einfache Aussage wie "Das Tier ist weiß" oder "Das Tier ist ein Eisbär". So wertvoll zum Beispiel all die Schlussfolgerungen sind, die das A-Priori-Wissen bereithält: Sie haben alle die Wenn-Dann-Form, d.h. die Folgerung ist immer an Prämissen gebunden, deren Gültigkeit ihrerseits nicht a priori bekannt ist. Rein logisch lässt sich also feststellen, was in einer bestimmten Situation gelten würde, nicht aber, ob die Situation besteht.

So ist beispielsweise der Satz des Pythagoras a priori richtig, aber nur in einer sehr strengen Form. Er weiß, auf welche Art sich die Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks auseinander berechnen lassen, knüpft diese Auskunft aber an umfangreiche Bedingungen. Es muss nicht nur ein rechter Winkel vorhanden sein; es muss das ganze Modell der ebenen Geometrie, das ebenfalls zu den logischen Voraussetzungen von Satz und Beweis gehört, auf die Situation anwendbar sein - die Logik selbst weiß das nicht.

Aussagen, die a priori richtig sind, haben also einen speziellen Charakter, dessen auffälligstes Merkmal ist, keine unstrukturierte Elementar-Aussage zu sein. Die einfachste und wichtigste Art von Aussagen ist somit im A-Priori-Wissen nicht enthalten: kein "Das Tier ist ein Eisbär", kein "Frieden ist besser als Krieg", kein "Der Himmel ist oben", kein "Ich bin ein Mensch". Aussagen, die rein logisch als richtig erkennbar sind, mögen gelegentlich bewahrenswertes Wissen darstellen, aber sie enthalten niemals eine wirkliche Information. Auch eine Aussage der Art "Ich sollte dies und jenes tun" ist immer eine Elementar-Aussage und daher nicht rein logisch zu begründen. Es gibt keine Entscheidung, die allein mit nackter Logik getroffen werden könnte.

Informationen kann die Logik nur hervorbringen, wenn ihr andere Informationen vorgegeben sind. In dieser Funktion liegt ihr wahrer Wert, und deshalb wird Logik häufig mit Schlussfolgern gleichgesetzt: Sie leitet die Richtigkeit von Aussagen aus der Richtigkeit anderer Aussagen ab. Eine Kette von Schlussfolgerungen kann nur dann in eine Information münden, wenn schon am Anfang der Kette Informationen stehen - und diese sind nicht logisch begründet. Logik muss also auf einem Vorrat bekannter Informationen aufsetzen. Durch diesen ist festgelegt und begrenzt, was sich logisch schlussfolgern lässt. Logik "produziert" keine Information, sondern deckt nur Aussagen auf, die in einem Bestand an Information sozusagen schon versteckt sind.

Vor diesem Hintergrund ist unser Projekt, Entscheidungen möglich zu machen, noch nicht allzu weit gediehen. An "bekannten Informationen", auf die Logik anwendbar wäre, stehen uns bisher nur sehr wenige zur Verfügung: Wir haben die Logik und folglich Informationen darüber, wie die Logik funktioniert. Der einzige Gegenstand, über den wir damit Erkenntnisse von logisch elementarer Art gewinnen können, ist das Nachdenken selbst. Sind wir damit entscheidungsfähig? Nein. Die Entscheidungen des Lebens drehen sich um konkrete Objekte und Vorgänge, und über solche haben wir bisher nur strukturiertes, informationsfreies A-Priori-Wissen.

Beobachtung

Wir kommen nicht umhin, weitere Informationen einzubeziehen; und tatsächlich verfügen wir über solche. Als Menschen haben wir zahlreiche Eindrücke, nämlich die, von denen wir zu glauben pflegen, dass sie Informationen über eine materielle Außenwelt einschließlich eines physisch vorhandenen eigenen Körpers sind, die uns durch unsere Sinnesorgane geliefert werden. Diese Bewandtnis lässt sich zwar logisch nicht bestätigen, aber Tatsache ist: Die Eindrücke selbst sind Informationen.

Zwar ist es kaum möglich, sie in ihrer ursprünglichen Form in Worte zu fassen, denn dazu ist die menschliche Sprache mit ihren pragmatischen Begriffen viel zu voreilig. Was sieht man, wenn man glaubt, ein Ei zu betrachten? Ein Ei? Pure Spekulation. Ein eiförmiges weißes Gebilde aus Materie? Auch das ungewiss. Fast jede Formulierung geht gleich mit unbewiesenen Behauptungen einher. Trotzdem gibt es da jenes flächige Spiel von Helligkeit, Dunkelheit und Farbe. Es gibt ein Empfinden von Wärme und Kälte. Es gibt die Eindrücke, die als Geräusche und Gerüche bekannt sind. Wir wollen diese Informationen Beobachtungen nennen. Die Frage ist, was sich mit ihnen anfangen lässt.

Wenn wir versuchen, Logik direkt auf die Beobachtungen anzuwenden, kommen wir nicht weit. Alle Beobachtungen sind im logischen Sinne Elementar-Aussagen. Für die Verwertung solcher Aussagen bietet die Logik nur einfachste Aussagenlogik, die zwar logische Strukturen erzeugen und umformen kann, an den Elementar-Aussagen selbst aber nichts ändert. Beispielsweise mögen folgende drei Beobachtungen gemacht worden sein:

  • Vor drei Wochen habe ich gesehen, wie ein Ei (E1) zu Boden fiel.
  • Ich habe gesehen, wie E1 auf den Boden auftraf, und dass es dabei zerbrochen ist.
  • Gerade eben habe ich gesehen, dass ein Ei (E2) in Richtung Boden fällt.

Eine Information wie "E2 wird zerbrechen" oder auch nur "Ich werde sehen, wie E2 zerbricht" lässt sich mit den bisher akzeptierten Mitteln daraus nicht gewinnen, denn diese Elementar-Aussage ist der Aussagenlogik hier nicht bekannt. Aus einer Menge von Beobachtungen kann reine Logik nichts anderes machen als eine zusammengesetzte Aussage, deren Elementar-Aussagen eben diese Beobachtungen sind. Die Anwendung von reiner Logik auf reine Beobachtung hat keinen praktischen Wert.

Mit anderen Worten: Wir verzweifeln noch immer an ungewohnten Barrieren. Nur mit Logik und Beobachtung sind wir nicht zu dem fähig, was uns als "Denken" vertraut ist.

Im Grunde nimmt schon unsere Sprache vorweg, dass der Verstand aus mehr besteht als Beobachtung und Logik. Kategorien wie "Ei", "Boden", "fallen" und "zerbrechen" stehen nicht für einzelne Vorgänge oder Objekte, sondern für ganze Klassen davon. Eine solche Zusammenfassung in Gruppen hat nur Sinn, wenn Vorgänge und Objekte, die ähnliche Beobachtungen hervorgerufen haben, sich im Allgemeinen auch in anderer Hinsicht als ähnlich erweisen. Die strenge Logik kann das aber nicht begründen.

Denken

Wir haben zwei Arten von Gewissheiten erkannt: erstens das rein logische A-Priori-Wissen und zweitens das Wissen über eigene Wahrnehmungen - auf das Logik allerdings nicht nutzbringend anwendbar ist. Keine noch so banale Entscheidung ist in dieser Menge der Gewissheiten enthalten, und weitere Gewissheiten gibt es nicht. Mit dem Anspruch der unzweifelhaften Richtigkeit ist das Ziel, Entscheidungen zu treffen, nicht erreichbar.

Zum nächsten Schritt gibt es deshalb keine Alternative. Wenn Gewissheiten nicht genügen, dann bleibt nur, sich auch auf ungewisse Aussagen zu stützen, sprich: auf Vermutungen. Zum Instrumentarium, das uns das alltägliche Nachdenken möglich macht, müssen Vermutungen gehören.

Was für Vermutungen könnten das sein?

Tatsächlich wissen wir schon einiges über sie. Wir wissen, dass es nicht einfach irgendwelche Vermutungen sein können. Wir kennen Eigenschaften, die sie haben müssen, um ihre Funktion erfüllen zu können.

Erstens wissen wir nach den Erfahrungen aus dem letzten Abschnitt, dass uns mit weiteren Elementar-Aussagen nicht geholfen ist. Wir brauchen Aussagen, mit denen wir die Grenzen der einfachen Aussagenlogik überwinden und Elementar-Aussagen bestätigen können, die uns nicht schon vorher als richtig bekannt waren.

Zweitens müssen unsere Wahrnehmungen Berücksichtigung finden. Sie sind die einzigen Informationen, die wir haben, und sie würden praktisch für ungültig erklärt, wenn wir beliebige Vermutungen als Grundlage unseres Denkens zuließen - zum Beispiel das genaue Gegenteil dessen, was wir beobachtet haben. Die Vermutungen, die wir anstellen, müssen in irgendeiner Beziehung zu den Wahrnehmungen stehen; auch wenn wir schon wissen, dass diese Beziehung keine einfache logische Schlussfolgerung sein kann.

Es gibt Aussagen, die diese beiden Eigenschaften haben und deshalb als Vermutungen in unserem Sinne taugen. Zum Beispiel folgende:

  • Wann immer ich beobachte, dass ein Ei zu Boden fällt, beobachte ich im Anschluss auch, dass es beim Auftreffen zerbricht.

Diese Vermutung ist keine logische Elementar-Aussage. Sie enthält erstens eine Wenn-Dann-Konstruktion. Zweitens ist sie abstrahiert: Sie spricht von irgendeinem Ei und von irgendeinem Boden. Drittens nimmt sie für sich in Anspruch, immer zu gelten. Solche Allaussagen durchbrechen die Grenzen der einfachen Aussagenlogik. Sie eröffnen die sogenannte Prädikatenlogik, aus der neue Elementar-Aussagen hervorgehen - wie zum Beispiel: "Ich werde beobachten, wie E2 zerbricht."

Darüber hinaus steht die Vermutung auch in einer logischen Beziehung zur Beobachtung, denn sie verträgt sich nur mit bestimmten Wahrnehmungen und mit anderen nicht.

Es sind solche Vermutungen über Gesetzmäßigkeiten, die uns aus der logischen Sackgasse führen. Praktisch ist die Sache freilich nicht ganz so einfach, denn wirkliche Allaussagen von absoluter Strenge scheitern allzu schnell. Erst mit dem Zugestehen einzelner Ausnahmen vom Gesetz, die wir als Fehler unbekannter Ursache oder als Wunder abtun (E2 zerbricht nicht), wird das Verfahren praktikabel. Die vermuteten Gesetzmäßigkeiten des praktischen Denkens sind deshalb eher von der Art, dass eine Aussage fast immer gilt, oder dass sie allgemein treffsicherer ist als alle konkurrierenden. Aus solchen Aussagen logische Schlüsse zu ziehen wie aus echten Allaussagen sind wir nicht ohne Weiteres berechtigt. Wir könnten dazu eine zweite Grundannahme formulieren, aber wir wollen uns einfach vorstellen, dass die Zulässigkeit solcher Schlüsse schon in der Annahme "Die Logik gilt" enthalten ist; sozusagen als Ausweitung der Logik ins Unscharfe.

Gesetzmäßigkeiten lassen sich auf verschiedenen Ebenen formulieren. Wird eine Vermutung über einen allgemeineren Zusammenhang angenommen, dann können dadurch speziellere Vermutungen überflüssig werden. So kennt zum Beispiel die Physik keine spezifische Gesetzmäßigkeit über zerbrechende Eier - und kann sie doch erklären, weil sie eine ganz universelle Mechanik enthält. Häufig bringen solche Verallgemeinerungen nicht nur Vereinfachung, sondern auch einen Gewinn an Exaktheit. Das Zusammenspiel verschiedener allgemeiner Zusammenhänge kann in Teilbereichen in sehr treffende Erklärungen münden, wie sie sich mit speziellen Gesetzmäßigkeiten kaum fassen ließen. So wird zum Beispiel das schlichte Gesetz "Am Tage ist es hell" ersetzt und sanft korrigiert durch die Gesetze der Astronomie, die nun eine Sonnenfinsternis als normalen Vorgang enthalten. Die meisten Wunder hören so irgendwann auf, welche zu sein.

Die vermuteten Gesetzmäßigkeiten bilden die Basis der Alltagslogik. Die Philosophen mögen darüber streiten, ob man diese Sammlung und die Schlussfolgerungen, die sie ermöglicht, als "Wissen" bezeichnen sollte. Die Umgangssprache ist diesbezüglich längst festgelegt: Ja, es soll Wissen heißen, denn der größte Teil des uns vertrauten Wissens ist von keiner anderen Art als dieser.

Viele Aussagen, die intuitiv "logisch" erscheinen, sind nicht a priori richtig, sondern werden erst auf diese Art zum Teil des Wissens; begonnen bei den grundlegendsten Dingen:

  • Die verschiedenen Sinne bilden alle die gleichen Erscheinungen ab, wenn auch jeder auf seine Art.
  • Diese Erscheinungen sind nicht konstant, sondern in ihrer Ausprägung mit dem verbunden, was man als die vergehende Zeit empfindet.
  • Jedem Vorgang sind andere Vorgänge zeitlich vorausgegangen, die mit ihm zu tun haben, und ohne die er nicht stattfinden würde - das fundamentale Prinzip von Ursache und Wirkung.
  • Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist vollständig gesetzmäßig.
  • Es gibt langlebige Strukturen, die sowohl einzeln als auch in Gruppen gut als Kategorien für Gesetzmäßigkeiten taugen.
  • Man selbst ist eine dieser Strukturen und als solche einer Klasse zugehörig, die in der Welt mehrfach vertreten ist; man nennt sie eben "Mensch".
  • Der Lauf der Welt wird nicht durch den eigenen Geist bestimmt, sondern die Erscheinungen führen ganz überwiegend ein Eigenleben. Einfluss darauf ist nur mit speziellen Handlungsweisen möglich und in der Wirksamkeit begrenzt.

Das alles sind keine willkürlichen Annahmen. Es sind Gefüge aus Kategorien und Gesetzmäßigkeiten in diesen Kategorien, die sich daran messen lassen, wie gut sie die Beobachtung erklären.

Logische Intuition

Mit dem Akzeptieren von Vermutungen verfügen wir nun über ein taugliches Konzept zumindest für Teile des Denkens. Die Instrumente, die wir dafür brauchen, sind die klassische Logik (mit einer gewissen pragmatischen Milderung), die Beobachtung und eben das Vermuten von Gesetzmäßigkeiten.

Verwirrend ist aber, wie dieses Denken aussieht. Wir hätten erwarten können, hier etwas vorzufinden, mit dem wir zutiefst vertraut sind. Das Denken ist ein permanenter Teil unseres Alltags, ähnlich dem Laufen oder dem Atmen. Nun haben wir ein theoretisches Konzept dafür gefunden, und es erscheint fremd. Denken wir so? Stellen wir Vermutungen an? Prüfen sie an der Beobachtung? Bauen darauf unsere Logik auf? Was wir in den letzten Abschnitten als Denken erkannt haben, ist ein vielschichtiger Komplex aus Kategorien, Vermutungen und Schlussfolgerungen; darunter höchst abstrakten. Das erlebte Denken dagegen ist oft kinderleicht; selbst Tiere sind zu einfachen Überlegungen fähig. (Und vielleicht liegt der Grund dafür, dass die Philosophen sich lange so schwer getan haben, das Wesen der Erkenntnis zu verstehen, tatsächlich darin, dass man etwas viel Einfacheres erwartet.)

Natürlich ist der Unterschied schnell erklärt; er liegt in dem Anspruch begründet, mit dem wir unsere Art von Denken entwickelt haben. Zwar sind wir verschiedene Kompromisse eingegangen, aber noch immer können unsere Methoden vollständig bewusst angewandt werden. Im praktischen Denken dagegen ist Effizienz enorm wichtig, und die Intuition ist mit dieser Priorität ein wunderbares Werkzeug. Es wäre ein Irrsinn, eine groteske Verschwendung von Zeit und Energie, würde ein Lebewesen ganz ohne Wissen auf die Reise geschickt, auf dass es von Null beginnend allmählich seine Welt begreift. Es wird in keiner anderen Welt leben als dieser; also können die Kategorien und Gesetzmäßigkeiten, zu denen es darin mittels bewusster Intelligenz gelangen würde, schon zu seiner angeborenen Ausstattung gehören. Oben und Unten, Freund und Feind, Ursache und Wirkung.

Und auch das, was dann noch zu denken übrig bleibt, kann allem Anschein nach von der Intuition massiv unterstützt werden. Das bewusste Denken ist langsam und kostspielig, so dass auch Teile des Denkprozesses günstigerweise unterbewusst ablaufen: beim Anwenden bekannter Gesetzmäßigkeiten, beim Vermuten und Prüfen neuer Gesetzmäßigkeiten. Was dem Bewusstsein bleibt, sind Fragmente eines halb in der Intuition versunkenen Vorgangs. Im Extremfall erlebt es vom Denken nur den Input, zum Beispiel eine Beobachtung oder die Schilderung einer solchen, und den Output, die Schlussfolgerung - die es trotzdem für die eigene hält. Denn die Grenze zwischen bewusstem Denken und Intuition ist kaum wahrnehmbar. Dem, der denkt, erscheint einfach alles "logisch".

Nun sind wir mit dem Ziel angetreten, Intuitionen so weit wie möglich aus der Entscheidungsfindung herauszuhalten. Das wird an dieser Stelle schwierig. Auf der bewussten Ebene den kompletten fehlenden Unterbau des Denkens nachzubilden, ist kaum möglich. Vielleicht können Mathematiker und Naturwissenschaftler in gemeinsamer Anstrengung mit einem derartigen Projekt erfolgreich sein, aber für das alltägliche Denken des Einzelnen wäre die Forderung völlig utopisch. Die Methode, die wir für das Denken entwickelt haben, ist nur theoretisch brauchbar; unser Verstand ist nicht dafür geschaffen, ohne Mithilfe der Intuition zu arbeiten. Richtig ist, dass wir in einzelne Überlegungen mehr Zeit und Energie investieren können, als es unsere Veranlagung vorsieht. Damit sollte es möglich sein, einen Anteil von dem, was da im Verborgenen eilig kategorisiert, vermutet und geschlussfolgert wird, ans Licht zu holen und zu prüfen, ob es durch etwas ersetzt werden sollte, das zwar nicht fundamental anders funktioniert, aber präziser ist. Mehr wird das, was wir "logisches Denken" nennen, kaum jemals sein können.

Der Vorgabe, zu einem möglichst bewussten Denken zu gelangen, kann nicht durch ein völlig bewusstes Denken entsprochen werden, sondern nur auf die Weise, dass das Maß an Intuition gering gehalten wird.

Wichtig ist aber, dass nicht jede Intuition von der Art ist, wie wir sie hier notgedrungen zulassen. Wovon wir sprechen, sind intuitiv bekannte Gesetzmäßigkeiten sowie eine intuitive Logik aus Vermutungen und Schlussfolgerungen. Nennen wir es die "logische" Intuition. Es gibt sehr wohl auch andere Arten spontaner Eingebung, zum Beispiel Wünsche oder anerzogene Werte. Die Kunst des logischen Denkens besteht nicht zuletzt darin, die verschiedenartigen Intuitionen voneinander zu trennen.

 

Weiter: Das Prinzip der kompetenteren Quelle